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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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B. Stellung der Magistratur. -- Staatsrechtl. Praxis. §. 35.
nur aus den dringendsten Gründen geschah; eine unmotivirte,
leichtsinnige Abweichung von der bisherigen Sitte war in alter
Zeit eine große Seltenheit und gab beim Volk vielleicht kaum
geringern Anstoß, als eine Verletzung der Gesetze.431) Aber
juristisch waren beide Fälle, wie bemerkt, unendlich verschieden,
denn wenn auch hier wie dort den Thäter hinterher eine Strafe
treffen konnte, so war doch die Handlung dort gültig, hier
nichtig. Der Unterschied in der verbindenden Kraft der eigent-
lichen Rechtssätze und der Praxis läßt sich mit den Ausdrücken
necesse esse und opus esse bezeichnen. So kommt bei Ci-
cero432) die Wendung vor: legem curiatam consuli ferri opus
esse
(er soll es thun) necesse non esse (aber die Unterlassung
begründet keine Nichtigkeit).

Es war nun Sache des Beamten im einzelnen Fall zu prü-
fen, ob es räthlicher, dem Wohl des Staats zuträglicher sei,
das Herkommen zu verlassen oder zu befolgen. Dies erforderte
eine sorgsame Abwägung der individuellen Verhältnisse. Denn
es konnte ihm nicht entgehen, daß das innere Gewicht der in
der bisherigen Praxis befolgten Normen ein sehr verschiedenes
war. Manche mußten ihm mehr als löblicher Brauch erschei-
nen, der so und anders sein konnte (wie z. B. die Reihenfolge
der Abstimmung im Senat), andere hingegen als Ausdruck po-
litischer Nothwendigkeit (z. B. Befolgung der Beschlüsse des

aussi celle du magistrat romain, qui se glorifiait de son respect pour la
tradition et considerait la coutume comme une des bases les plus so-
lides de l'Etat.
431) So ward es z. B. bei Tarquinius Superbus stets als Zeichen sei-
ner despotischen Gesinnung angeführt, daß er die Zuziehung eines consilium
bei der Fällung von Straferkenntnissen unterlassen. Mit dieser Zuziehung
hatte es aber keine andere Bewandniß, als mit der des Verwandtenraths bei
Ausübung der Strafgerichtsbarkeit von Seiten des Vaters. Unter denselben
Gesichtspunkt fällt meiner Meinung nach auch der Vorwurf, den man ihm so
wie den Decemvirn machte, daß sie sich über die Sitte, den Senat zusammen-
zuberufen, hinweggesetzt hätten.
432) Ad famil. I. 9, §. 25.

B. Stellung der Magiſtratur. — Staatsrechtl. Praxis. §. 35.
nur aus den dringendſten Gründen geſchah; eine unmotivirte,
leichtſinnige Abweichung von der bisherigen Sitte war in alter
Zeit eine große Seltenheit und gab beim Volk vielleicht kaum
geringern Anſtoß, als eine Verletzung der Geſetze.431) Aber
juriſtiſch waren beide Fälle, wie bemerkt, unendlich verſchieden,
denn wenn auch hier wie dort den Thäter hinterher eine Strafe
treffen konnte, ſo war doch die Handlung dort gültig, hier
nichtig. Der Unterſchied in der verbindenden Kraft der eigent-
lichen Rechtsſätze und der Praxis läßt ſich mit den Ausdrücken
necesse esse und opus esse bezeichnen. So kommt bei Ci-
cero432) die Wendung vor: legem curiatam consuli ferri opus
esse
(er ſoll es thun) necesse non esse (aber die Unterlaſſung
begründet keine Nichtigkeit).

Es war nun Sache des Beamten im einzelnen Fall zu prü-
fen, ob es räthlicher, dem Wohl des Staats zuträglicher ſei,
das Herkommen zu verlaſſen oder zu befolgen. Dies erforderte
eine ſorgſame Abwägung der individuellen Verhältniſſe. Denn
es konnte ihm nicht entgehen, daß das innere Gewicht der in
der bisherigen Praxis befolgten Normen ein ſehr verſchiedenes
war. Manche mußten ihm mehr als löblicher Brauch erſchei-
nen, der ſo und anders ſein konnte (wie z. B. die Reihenfolge
der Abſtimmung im Senat), andere hingegen als Ausdruck po-
litiſcher Nothwendigkeit (z. B. Befolgung der Beſchlüſſe des

aussi celle du magistrat romain, qui se glorifiait de son respect pour la
tradition et considérait la coutume comme une des bases les plus so-
lides de l’État.
431) So ward es z. B. bei Tarquinius Superbus ſtets als Zeichen ſei-
ner deſpotiſchen Geſinnung angeführt, daß er die Zuziehung eines consilium
bei der Fällung von Straferkenntniſſen unterlaſſen. Mit dieſer Zuziehung
hatte es aber keine andere Bewandniß, als mit der des Verwandtenraths bei
Ausübung der Strafgerichtsbarkeit von Seiten des Vaters. Unter denſelben
Geſichtspunkt fällt meiner Meinung nach auch der Vorwurf, den man ihm ſo
wie den Decemvirn machte, daß ſie ſich über die Sitte, den Senat zuſammen-
zuberufen, hinweggeſetzt hätten.
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[287/0301] B. Stellung der Magiſtratur. — Staatsrechtl. Praxis. §. 35. nur aus den dringendſten Gründen geſchah; eine unmotivirte, leichtſinnige Abweichung von der bisherigen Sitte war in alter Zeit eine große Seltenheit und gab beim Volk vielleicht kaum geringern Anſtoß, als eine Verletzung der Geſetze. 431) Aber juriſtiſch waren beide Fälle, wie bemerkt, unendlich verſchieden, denn wenn auch hier wie dort den Thäter hinterher eine Strafe treffen konnte, ſo war doch die Handlung dort gültig, hier nichtig. Der Unterſchied in der verbindenden Kraft der eigent- lichen Rechtsſätze und der Praxis läßt ſich mit den Ausdrücken necesse esse und opus esse bezeichnen. So kommt bei Ci- cero 432) die Wendung vor: legem curiatam consuli ferri opus esse (er ſoll es thun) necesse non esse (aber die Unterlaſſung begründet keine Nichtigkeit). Es war nun Sache des Beamten im einzelnen Fall zu prü- fen, ob es räthlicher, dem Wohl des Staats zuträglicher ſei, das Herkommen zu verlaſſen oder zu befolgen. Dies erforderte eine ſorgſame Abwägung der individuellen Verhältniſſe. Denn es konnte ihm nicht entgehen, daß das innere Gewicht der in der bisherigen Praxis befolgten Normen ein ſehr verſchiedenes war. Manche mußten ihm mehr als löblicher Brauch erſchei- nen, der ſo und anders ſein konnte (wie z. B. die Reihenfolge der Abſtimmung im Senat), andere hingegen als Ausdruck po- litiſcher Nothwendigkeit (z. B. Befolgung der Beſchlüſſe des 430) 431) So ward es z. B. bei Tarquinius Superbus ſtets als Zeichen ſei- ner deſpotiſchen Geſinnung angeführt, daß er die Zuziehung eines consilium bei der Fällung von Straferkenntniſſen unterlaſſen. Mit dieſer Zuziehung hatte es aber keine andere Bewandniß, als mit der des Verwandtenraths bei Ausübung der Strafgerichtsbarkeit von Seiten des Vaters. Unter denſelben Geſichtspunkt fällt meiner Meinung nach auch der Vorwurf, den man ihm ſo wie den Decemvirn machte, daß ſie ſich über die Sitte, den Senat zuſammen- zuberufen, hinweggeſetzt hätten. 432) Ad famil. I. 9, §. 25. 430) aussi celle du magistrat romain, qui se glorifiait de son respect pour la tradition et considérait la coutume comme une des bases les plus so- lides de l’État.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/301>, abgerufen am 08.05.2024.