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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
staatsrechtliche Praxis ausbildete. Hatte schon die Praxis für
die Civilrechtspflege nicht schlechthin verbindliche Kraft (unge-
achtet der Grundsatz der Gleichheit, wie oben bemerkt ward,
für sie eine ganz andere Bedeutung hat, als für die Verwal-
tung) so konnte dies für die Verhältnisse des öffentlichen Rechts
noch weniger der Fall sein. Allerdings gab es dort wie hier
gewisse Einrichtungen, Regeln u. s. w., die, ohne durch Gesetz
vorgeschrieben zu sein, doch von der Praxis unabänderlich zur
Anwendung gebracht wurden, aber es würde verkehrt sein,
dasselbe von allen Sätzen der Praxis anzunehmen. Wir un-
terscheiden vielmehr auch für das Staatsrecht das eigentliche
Gewohnheitsrecht (z. B. Unfähigkeit der Frauen zur Be-
kleidung von Staatsämtern, Nothwendigkeit der Beachtung
der Auspicien, rechtliche Unmöglichkeit einer Volksversamm-
lung ohne Berufung von Seiten eines Magistrats u. s. w.)
und die bloße staatsrechtliche Sitte und Praxis
schlechthin.

Die Stellung des Magistrats der Praxis gegenüber war
weder eine freie noch völlig unfreie. Keine völlig freie, denn
die stillschweigende Erwartung, unter der ihm seine Gewalt an-
vertraut war, war die, daß er, wenn keine besonderen Gründe
zu einer Abweichung vorlägen, die bisherigen Bahnen inne-
halte. Keine völlig unfreie, denn es war seinem Ermessen über-
lassen, diese Bahnen aus gerechten Gründen ausnahmsweise
zu verlassen.430) Es lag in der Weise der Römer, daß dies

hafteste Quietismus, die schmählichste Apathie und eine blinde Unterordnung
der Einsicht aller folgenden Zeiten unter das Urtheil der ersten und zugleich
letzten selbstdenkenden Person -- des Präcedentien-Adams?
430) Dies möchte ich namentlich gegen Laboulaye a. a. O. S. 73 ein-
wenden, der im übrigen das Verhältniß treffend charakterisirt. En droit, le
magistrat etait tout-puissant; mais la coutume l'emprisonait dans un
cercle de precedents dont il lui etait comme impossible de sortir. Free
by law, slave by custom
: cette devise du citoyen anglais etait

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
ſtaatsrechtliche Praxis ausbildete. Hatte ſchon die Praxis für
die Civilrechtspflege nicht ſchlechthin verbindliche Kraft (unge-
achtet der Grundſatz der Gleichheit, wie oben bemerkt ward,
für ſie eine ganz andere Bedeutung hat, als für die Verwal-
tung) ſo konnte dies für die Verhältniſſe des öffentlichen Rechts
noch weniger der Fall ſein. Allerdings gab es dort wie hier
gewiſſe Einrichtungen, Regeln u. ſ. w., die, ohne durch Geſetz
vorgeſchrieben zu ſein, doch von der Praxis unabänderlich zur
Anwendung gebracht wurden, aber es würde verkehrt ſein,
daſſelbe von allen Sätzen der Praxis anzunehmen. Wir un-
terſcheiden vielmehr auch für das Staatsrecht das eigentliche
Gewohnheitsrecht (z. B. Unfähigkeit der Frauen zur Be-
kleidung von Staatsämtern, Nothwendigkeit der Beachtung
der Auſpicien, rechtliche Unmöglichkeit einer Volksverſamm-
lung ohne Berufung von Seiten eines Magiſtrats u. ſ. w.)
und die bloße ſtaatsrechtliche Sitte und Praxis
ſchlechthin.

Die Stellung des Magiſtrats der Praxis gegenüber war
weder eine freie noch völlig unfreie. Keine völlig freie, denn
die ſtillſchweigende Erwartung, unter der ihm ſeine Gewalt an-
vertraut war, war die, daß er, wenn keine beſonderen Gründe
zu einer Abweichung vorlägen, die bisherigen Bahnen inne-
halte. Keine völlig unfreie, denn es war ſeinem Ermeſſen über-
laſſen, dieſe Bahnen aus gerechten Gründen ausnahmsweiſe
zu verlaſſen.430) Es lag in der Weiſe der Römer, daß dies

hafteſte Quietismus, die ſchmählichſte Apathie und eine blinde Unterordnung
der Einſicht aller folgenden Zeiten unter das Urtheil der erſten und zugleich
letzten ſelbſtdenkenden Perſon — des Präcedentien-Adams?
430) Dies möchte ich namentlich gegen Laboulaye a. a. O. S. 73 ein-
wenden, der im übrigen das Verhältniß treffend charakteriſirt. En droit, le
magistrat était tout-puissant; mais la coutume l’emprisonait dans un
cercle de précédents dont il lui était comme impossible de sortir. Free
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[286/0300] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. ſtaatsrechtliche Praxis ausbildete. Hatte ſchon die Praxis für die Civilrechtspflege nicht ſchlechthin verbindliche Kraft (unge- achtet der Grundſatz der Gleichheit, wie oben bemerkt ward, für ſie eine ganz andere Bedeutung hat, als für die Verwal- tung) ſo konnte dies für die Verhältniſſe des öffentlichen Rechts noch weniger der Fall ſein. Allerdings gab es dort wie hier gewiſſe Einrichtungen, Regeln u. ſ. w., die, ohne durch Geſetz vorgeſchrieben zu ſein, doch von der Praxis unabänderlich zur Anwendung gebracht wurden, aber es würde verkehrt ſein, daſſelbe von allen Sätzen der Praxis anzunehmen. Wir un- terſcheiden vielmehr auch für das Staatsrecht das eigentliche Gewohnheitsrecht (z. B. Unfähigkeit der Frauen zur Be- kleidung von Staatsämtern, Nothwendigkeit der Beachtung der Auſpicien, rechtliche Unmöglichkeit einer Volksverſamm- lung ohne Berufung von Seiten eines Magiſtrats u. ſ. w.) und die bloße ſtaatsrechtliche Sitte und Praxis ſchlechthin. Die Stellung des Magiſtrats der Praxis gegenüber war weder eine freie noch völlig unfreie. Keine völlig freie, denn die ſtillſchweigende Erwartung, unter der ihm ſeine Gewalt an- vertraut war, war die, daß er, wenn keine beſonderen Gründe zu einer Abweichung vorlägen, die bisherigen Bahnen inne- halte. Keine völlig unfreie, denn es war ſeinem Ermeſſen über- laſſen, dieſe Bahnen aus gerechten Gründen ausnahmsweiſe zu verlaſſen. 430) Es lag in der Weiſe der Römer, daß dies 429) 430) Dies möchte ich namentlich gegen Laboulaye a. a. O. S. 73 ein- wenden, der im übrigen das Verhältniß treffend charakteriſirt. En droit, le magistrat était tout-puissant; mais la coutume l’emprisonait dans un cercle de précédents dont il lui était comme impossible de sortir. Free by law, slave by custom: cette devise du citoyen anglais était 429) hafteſte Quietismus, die ſchmählichſte Apathie und eine blinde Unterordnung der Einſicht aller folgenden Zeiten unter das Urtheil der erſten und zugleich letzten ſelbſtdenkenden Perſon — des Präcedentien-Adams?

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/300>, abgerufen am 22.11.2024.