Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. blieb ihnen selbst d. h. dem Takt ihrer Träger, der Macht derUmstände und der Praxis überlassen. Gegenüber der Fülle und Vielseitigkeit staatsrechtlicher Entwickelung in Rom verschwindet daher der Stoff, den die Gesetzgebung dazu lieferte, fast in ein Nichts zusammen; aus den unscheinbarsten Keimen, die sie ge- pflanzt hatte, entwickelten sich unter dem Einfluß des Lebens die mächtigsten Bildungen, wie z. B. bei der Censur, wo die Rö- mer selbst auf diesen Gesichtspunkt aufmerksam machen.428) Man wird mir nun entgegnen, daß das Gewohnheitsrecht 428) Liv. IV, 8 .. rei a parva origine ortae, quae deinde tanto
incremento aucta est, ut morum disciplinaeque Romanae penes eam regi- men, senatus equitumque centuriae decoris dedecorisque discrimen sub ditione ejus magistratus, publicorum jus privatorumque locorum vecti- galia populi Romani sub nutu atque arbitrio essent. Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. blieb ihnen ſelbſt d. h. dem Takt ihrer Träger, der Macht derUmſtände und der Praxis überlaſſen. Gegenüber der Fülle und Vielſeitigkeit ſtaatsrechtlicher Entwickelung in Rom verſchwindet daher der Stoff, den die Geſetzgebung dazu lieferte, faſt in ein Nichts zuſammen; aus den unſcheinbarſten Keimen, die ſie ge- pflanzt hatte, entwickelten ſich unter dem Einfluß des Lebens die mächtigſten Bildungen, wie z. B. bei der Cenſur, wo die Rö- mer ſelbſt auf dieſen Geſichtspunkt aufmerkſam machen.428) Man wird mir nun entgegnen, daß das Gewohnheitsrecht 428) Liv. IV, 8 .. rei a parva origine ortae, quae deinde tanto
incremento aucta est, ut morum disciplinaeque Romanae penes eam regi- men, senatus equitumque centuriae decoris dedecorisque discrimen sub ditione ejus magistratus, publicorum jus privatorumque locorum vecti- galia populi Romani sub nutu atque arbitrio essent. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p><pb facs="#f0298" n="284"/><fw place="top" type="header">Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe. <hi rendition="#aq">III.</hi> Der Freiheitstrieb.</fw><lb/> blieb ihnen ſelbſt d. h. dem Takt ihrer Träger, der Macht der<lb/> Umſtände und der Praxis überlaſſen. Gegenüber der Fülle und<lb/> Vielſeitigkeit ſtaatsrechtlicher Entwickelung in Rom verſchwindet<lb/> daher der Stoff, den die Geſetzgebung dazu lieferte, faſt in ein<lb/> Nichts zuſammen; aus den unſcheinbarſten Keimen, die ſie ge-<lb/> pflanzt hatte, entwickelten ſich unter dem Einfluß des Lebens die<lb/> mächtigſten Bildungen, wie z. B. bei der Cenſur, wo die Rö-<lb/> mer ſelbſt auf dieſen Geſichtspunkt aufmerkſam machen.<note place="foot" n="428)"><hi rendition="#aq">Liv. IV, 8 .. rei a <hi rendition="#g">parva origine</hi> ortae, quae deinde tanto<lb/> incremento aucta est, ut morum disciplinaeque Romanae penes eam regi-<lb/> men, senatus equitumque centuriae decoris dedecorisque discrimen sub<lb/> ditione ejus magistratus, publicorum jus privatorumque locorum vecti-<lb/> galia populi Romani sub nutu atque arbitrio essent.</hi></note></p><lb/> <p>Man wird mir nun entgegnen, daß das Gewohnheitsrecht<lb/> hier wie ſo oft die Lücken des ungeſchriebenen Rechts ergänzt<lb/> habe. Mit dieſem Einwande berühre ich einen Punkt, der für<lb/> die richtige Einſicht in das römiſche Staatsrecht überhaupt, ſo<lb/> wie die Stellung der Magiſtrate insbeſondere von der äußerſten<lb/> Wichtigkeit iſt, und bei dem ich der herrſchenden Anſicht aufs<lb/> entſchiedenſte entgegentreten muß. Der Fehler, den man hier<lb/> begeht, beſteht darin, daß man die Sitte, das Herkommen (<hi rendition="#aq">mos,<lb/> mores majorum</hi>) mit Gewohnheitsrecht verwechſelt. Das ge-<lb/> wohnheitsrechtliche und geſetzliche Recht unterſcheiden ſich be-<lb/> kanntlich nur durch die Art ihrer Entſtehung, ihre verbindende<lb/> Kraft aber iſt ganz dieſelbe, eine Uebertretung enthält bei bei-<lb/> den eine Illegalität und bewirkt Nichtigkeit. Dem Gewohn-<lb/> heitsrecht geht aber ein Zuſtand der Unbeſtimmtheit voraus, den<lb/> ich bereits früher (S. 27) geſchildert und mit dem Namen der<lb/> Sitte belegt habe. Dieſer Zuſtand, der für die Normen, die ſich<lb/> zu eigentlichem Gewohnheitsrecht verdichten, nur als vorüber-<lb/> gehende Entwickelungsphaſe erſcheint, iſt für manche andere ein<lb/> bleibender, ſie kommen nie über ihn hinaus. Aeußerlich ſehen<lb/> das Gewohnheitsrecht und die Sitte ſich völlig gleich; bei bei-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [284/0298]
Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
blieb ihnen ſelbſt d. h. dem Takt ihrer Träger, der Macht der
Umſtände und der Praxis überlaſſen. Gegenüber der Fülle und
Vielſeitigkeit ſtaatsrechtlicher Entwickelung in Rom verſchwindet
daher der Stoff, den die Geſetzgebung dazu lieferte, faſt in ein
Nichts zuſammen; aus den unſcheinbarſten Keimen, die ſie ge-
pflanzt hatte, entwickelten ſich unter dem Einfluß des Lebens die
mächtigſten Bildungen, wie z. B. bei der Cenſur, wo die Rö-
mer ſelbſt auf dieſen Geſichtspunkt aufmerkſam machen. 428)
Man wird mir nun entgegnen, daß das Gewohnheitsrecht
hier wie ſo oft die Lücken des ungeſchriebenen Rechts ergänzt
habe. Mit dieſem Einwande berühre ich einen Punkt, der für
die richtige Einſicht in das römiſche Staatsrecht überhaupt, ſo
wie die Stellung der Magiſtrate insbeſondere von der äußerſten
Wichtigkeit iſt, und bei dem ich der herrſchenden Anſicht aufs
entſchiedenſte entgegentreten muß. Der Fehler, den man hier
begeht, beſteht darin, daß man die Sitte, das Herkommen (mos,
mores majorum) mit Gewohnheitsrecht verwechſelt. Das ge-
wohnheitsrechtliche und geſetzliche Recht unterſcheiden ſich be-
kanntlich nur durch die Art ihrer Entſtehung, ihre verbindende
Kraft aber iſt ganz dieſelbe, eine Uebertretung enthält bei bei-
den eine Illegalität und bewirkt Nichtigkeit. Dem Gewohn-
heitsrecht geht aber ein Zuſtand der Unbeſtimmtheit voraus, den
ich bereits früher (S. 27) geſchildert und mit dem Namen der
Sitte belegt habe. Dieſer Zuſtand, der für die Normen, die ſich
zu eigentlichem Gewohnheitsrecht verdichten, nur als vorüber-
gehende Entwickelungsphaſe erſcheint, iſt für manche andere ein
bleibender, ſie kommen nie über ihn hinaus. Aeußerlich ſehen
das Gewohnheitsrecht und die Sitte ſich völlig gleich; bei bei-
428) Liv. IV, 8 .. rei a parva origine ortae, quae deinde tanto
incremento aucta est, ut morum disciplinaeque Romanae penes eam regi-
men, senatus equitumque centuriae decoris dedecorisque discrimen sub
ditione ejus magistratus, publicorum jus privatorumque locorum vecti-
galia populi Romani sub nutu atque arbitrio essent.
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