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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweit. Buch. Erst. Abschn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Kindes ganz außer allem Zweifel war, mochte Jemand es ohne
Nachtheil wagen, sich über die Sitte hinwegzusetzen. 334) Jeden-
falls war es aber für den Gewaltinnehaber selbst unter allen
Umständen das Gerathenste, die Sitte zu beachten, denn es
ließ sich nicht berechnen, ob nicht schon der Censor, ganz abge-
sehn von der Gerechtigkeit des gefällten Spruches, die Ver-
letzung des Herkommens rügen und strafen würde. 335) Ein
wirklicher Mißbrauch der Gewalt aber konnte noch ganz andere
Folgen haben. Von einem über die Hausangehörigen verhäng-
ten und vollzogenen Todesurtheil unterschied die öffentliche
Meinung sehr wohl einen Todtschlag derselben. Wer sich letz-
tern hatte zu Schulden kommen lassen, konnte vor die Volks-
versammlung gestellt werden, und das Pochen auf sein jus
necis ac vitae,
in dem jener Unterschied allerdings nicht zu
Tage lag, konnte ihm bei der Gestaltung und dem Geist der
ältern Strafrechtspflege (S. 43) wenig nützen; die sittliche
Entrüstung des Volks ließ sich dadurch nicht beschwichtigen. 336)
Wird uns doch sogar von einem Fall berichtet, wo ein Vater
angeklagt ward, weil er seinen Sohn, der durch Talent und
Geschlecht zu Höherem bestimmt sei, ausschließlich zur Feld-
arbeit verwende und ihm dadurch die politische Laufbahn ver-
schließe. 337) Daß auch das Vaterland ein Anrecht auf die Kin-

334) S. z. B. Val. Max. V. 8, 3 .. ne consilio quidem necessario-
rum indigere se credidit. id. VI. 3, 9. Sall. Catil.
39.
335) Wie in dem Fall der Anm. 330.
336) Fälle bei Orosius III. 9 exstitit parricida, .. filium enim suum
peremit
u. V. 15 (16): Q. Fabius Maximus filium suum ... cum duobus
servis parricidii ministris interfecit ... Die dicta Cn. Pompejo accu-
sante damnatus est. Seneca de clem. I.
14. Ein anderer Fall, in dem der
Angeklagte für schuldlos erkannt und freigesprochen wurde s. bei Plin. Hist.
nat. XIV. 14. Valer. Max. VI.
3, 9 u. a. Ob dieser Fall, den Plinius
unter Romulus verlegt, mythisch ist, relevirt nichts für die allein wesentliche
Frage, wie die Römer die Sache auffaßten, und daß sie die im Texte ihnen
untergelegte Unterscheidung wirklich machten, geht aus Plinius hervor: eum-
que caedis esse absolutum.
337) Val. Max. V. 4, 3.

Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb.
Kindes ganz außer allem Zweifel war, mochte Jemand es ohne
Nachtheil wagen, ſich über die Sitte hinwegzuſetzen. 334) Jeden-
falls war es aber für den Gewaltinnehaber ſelbſt unter allen
Umſtänden das Gerathenſte, die Sitte zu beachten, denn es
ließ ſich nicht berechnen, ob nicht ſchon der Cenſor, ganz abge-
ſehn von der Gerechtigkeit des gefällten Spruches, die Ver-
letzung des Herkommens rügen und ſtrafen würde. 335) Ein
wirklicher Mißbrauch der Gewalt aber konnte noch ganz andere
Folgen haben. Von einem über die Hausangehörigen verhäng-
ten und vollzogenen Todesurtheil unterſchied die öffentliche
Meinung ſehr wohl einen Todtſchlag derſelben. Wer ſich letz-
tern hatte zu Schulden kommen laſſen, konnte vor die Volks-
verſammlung geſtellt werden, und das Pochen auf ſein jus
necis ac vitae,
in dem jener Unterſchied allerdings nicht zu
Tage lag, konnte ihm bei der Geſtaltung und dem Geiſt der
ältern Strafrechtspflege (S. 43) wenig nützen; die ſittliche
Entrüſtung des Volks ließ ſich dadurch nicht beſchwichtigen. 336)
Wird uns doch ſogar von einem Fall berichtet, wo ein Vater
angeklagt ward, weil er ſeinen Sohn, der durch Talent und
Geſchlecht zu Höherem beſtimmt ſei, ausſchließlich zur Feld-
arbeit verwende und ihm dadurch die politiſche Laufbahn ver-
ſchließe. 337) Daß auch das Vaterland ein Anrecht auf die Kin-

334) S. z. B. Val. Max. V. 8, 3 .. ne consilio quidem necessario-
rum indigere se credidit. id. VI. 3, 9. Sall. Catil.
39.
335) Wie in dem Fall der Anm. 330.
336) Fälle bei Orosius III. 9 exstitit parricida, .. filium enim suum
peremit
u. V. 15 (16): Q. Fabius Maximus filium suum … cum duobus
servis parricidii ministris interfecit … Die dicta Cn. Pompejo accu-
sante damnatus est. Seneca de clem. I.
14. Ein anderer Fall, in dem der
Angeklagte für ſchuldlos erkannt und freigeſprochen wurde ſ. bei Plin. Hist.
nat. XIV. 14. Valer. Max. VI.
3, 9 u. a. Ob dieſer Fall, den Plinius
unter Romulus verlegt, mythiſch iſt, relevirt nichts für die allein weſentliche
Frage, wie die Römer die Sache auffaßten, und daß ſie die im Texte ihnen
untergelegte Unterſcheidung wirklich machten, geht aus Plinius hervor: eum-
que caedis esse absolutum.
337) Val. Max. V. 4, 3.
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[220/0234] Zweit. Buch. Erſt. Abſchn. II. Die Grundtriebe. III. Der Freiheitstrieb. Kindes ganz außer allem Zweifel war, mochte Jemand es ohne Nachtheil wagen, ſich über die Sitte hinwegzuſetzen. 334) Jeden- falls war es aber für den Gewaltinnehaber ſelbſt unter allen Umſtänden das Gerathenſte, die Sitte zu beachten, denn es ließ ſich nicht berechnen, ob nicht ſchon der Cenſor, ganz abge- ſehn von der Gerechtigkeit des gefällten Spruches, die Ver- letzung des Herkommens rügen und ſtrafen würde. 335) Ein wirklicher Mißbrauch der Gewalt aber konnte noch ganz andere Folgen haben. Von einem über die Hausangehörigen verhäng- ten und vollzogenen Todesurtheil unterſchied die öffentliche Meinung ſehr wohl einen Todtſchlag derſelben. Wer ſich letz- tern hatte zu Schulden kommen laſſen, konnte vor die Volks- verſammlung geſtellt werden, und das Pochen auf ſein jus necis ac vitae, in dem jener Unterſchied allerdings nicht zu Tage lag, konnte ihm bei der Geſtaltung und dem Geiſt der ältern Strafrechtspflege (S. 43) wenig nützen; die ſittliche Entrüſtung des Volks ließ ſich dadurch nicht beſchwichtigen. 336) Wird uns doch ſogar von einem Fall berichtet, wo ein Vater angeklagt ward, weil er ſeinen Sohn, der durch Talent und Geſchlecht zu Höherem beſtimmt ſei, ausſchließlich zur Feld- arbeit verwende und ihm dadurch die politiſche Laufbahn ver- ſchließe. 337) Daß auch das Vaterland ein Anrecht auf die Kin- 334) S. z. B. Val. Max. V. 8, 3 .. ne consilio quidem necessario- rum indigere se credidit. id. VI. 3, 9. Sall. Catil. 39. 335) Wie in dem Fall der Anm. 330. 336) Fälle bei Orosius III. 9 exstitit parricida, .. filium enim suum peremit u. V. 15 (16): Q. Fabius Maximus filium suum … cum duobus servis parricidii ministris interfecit … Die dicta Cn. Pompejo accu- sante damnatus est. Seneca de clem. I. 14. Ein anderer Fall, in dem der Angeklagte für ſchuldlos erkannt und freigeſprochen wurde ſ. bei Plin. Hist. nat. XIV. 14. Valer. Max. VI. 3, 9 u. a. Ob dieſer Fall, den Plinius unter Romulus verlegt, mythiſch iſt, relevirt nichts für die allein weſentliche Frage, wie die Römer die Sache auffaßten, und daß ſie die im Texte ihnen untergelegte Unterſcheidung wirklich machten, geht aus Plinius hervor: eum- que caedis esse absolutum. 337) Val. Max. V. 4, 3.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/234>, abgerufen am 06.05.2024.