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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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A. Stellung des Indiv. Syst. der Auton. Obligationenrecht. §. 31.
Schuldlosen, der durch Unglücksfälle zahlungsunfähig gewor-
den war, dieselbe Strafe treffen. Aber auch hier lasse man sich
durch die bloße abstracte Möglichkeit nicht schrecken; es kommt
darauf an, wie es sich im Leben machte. Und wie ganz anders
sich die Sache im Leben gestaltete, als es nach dem abstracten
Rechte hätte sein können, läßt sich gerade hier an einem eklatan-
ten Beispiel nachweisen. Jenes Zerfleischen des Schuldners soll
nach dem Bericht der Römer nie vorgenommen worden sein. 198)
Erklärlich! denn die verborgenen Zahlungsmittel und Hülfs-
quellen des Schuldners brachte die bloße Drohung mit der "peinli-
chen Frage" an den Tag, und wo nichts vorhanden war, wagten
die Gläubiger es in ihrem eigenen Interesse nicht, dem römischen
Volk das Schauspiel einer unmotivirten unmenschlichen Grau-
samkeit zu geben. Mit dem Verkauf in die Fremde hatte es wohl,
eine ähnliche Bewandniß. Als Schreckmittel für einen zahlungs-
fähigen, aber zahlungsunlustigen Schuldner reichte er vollkom-
men aus, bei verschuldeter Insolvenz mochte er oft genug
wirklich zur Ausführung kommen, da hier eine Nachsicht von
Seiten der Gläubiger oder eine Beihülfe von Seiten der Ver-
wandten, Freunde u. s. w. vielleicht eben so selten, wie umge-
kehrt bei unverschuldeter Insolvenz regelmäßig zu erwar-
ten war. Damit wollen wir das Loos des Schuldners auch im
letzten Fall keineswegs mit schönen Farben malen, denn die
Aussicht auf die Gefahr, die ihm drohte, brachte ihn ganz in
die Hand des Gläubigers, und daß die Römer sich einer sol-
chen Gewalt mit Schonung und Humanität bedient hätten,
wird auch dem eifrigsten Verehrer derselben nicht einfallen zu
behaupten. Vielmehr ist es begreiflich, daß der Gläubiger dem

198) Gell. XX. 1. Nihil profecto immitius, nihil immanius, nisi ut re
ipsa apparet eo consilio tanta immanitas poenae denunciata est, ne ad
eam unquam perveniretur .... dissectum esse antiquitus neminem
equidem neque legi, neque audivi
(dem Africanus in den Mund gelegt).
Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 11

A. Stellung des Indiv. Syſt. der Auton. Obligationenrecht. §. 31.
Schuldloſen, der durch Unglücksfälle zahlungsunfähig gewor-
den war, dieſelbe Strafe treffen. Aber auch hier laſſe man ſich
durch die bloße abſtracte Möglichkeit nicht ſchrecken; es kommt
darauf an, wie es ſich im Leben machte. Und wie ganz anders
ſich die Sache im Leben geſtaltete, als es nach dem abſtracten
Rechte hätte ſein können, läßt ſich gerade hier an einem eklatan-
ten Beiſpiel nachweiſen. Jenes Zerfleiſchen des Schuldners ſoll
nach dem Bericht der Römer nie vorgenommen worden ſein. 198)
Erklärlich! denn die verborgenen Zahlungsmittel und Hülfs-
quellen des Schuldners brachte die bloße Drohung mit der „peinli-
chen Frage“ an den Tag, und wo nichts vorhanden war, wagten
die Gläubiger es in ihrem eigenen Intereſſe nicht, dem römiſchen
Volk das Schauſpiel einer unmotivirten unmenſchlichen Grau-
ſamkeit zu geben. Mit dem Verkauf in die Fremde hatte es wohl,
eine ähnliche Bewandniß. Als Schreckmittel für einen zahlungs-
fähigen, aber zahlungsunluſtigen Schuldner reichte er vollkom-
men aus, bei verſchuldeter Inſolvenz mochte er oft genug
wirklich zur Ausführung kommen, da hier eine Nachſicht von
Seiten der Gläubiger oder eine Beihülfe von Seiten der Ver-
wandten, Freunde u. ſ. w. vielleicht eben ſo ſelten, wie umge-
kehrt bei unverſchuldeter Inſolvenz regelmäßig zu erwar-
ten war. Damit wollen wir das Loos des Schuldners auch im
letzten Fall keineswegs mit ſchönen Farben malen, denn die
Ausſicht auf die Gefahr, die ihm drohte, brachte ihn ganz in
die Hand des Gläubigers, und daß die Römer ſich einer ſol-
chen Gewalt mit Schonung und Humanität bedient hätten,
wird auch dem eifrigſten Verehrer derſelben nicht einfallen zu
behaupten. Vielmehr iſt es begreiflich, daß der Gläubiger dem

198) Gell. XX. 1. Nihil profecto immitius, nihil immanius, nisi ut re
ipsa apparet eo consilio tanta immanitas poenae denunciata est, ne ad
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[161/0175] A. Stellung des Indiv. Syſt. der Auton. Obligationenrecht. §. 31. Schuldloſen, der durch Unglücksfälle zahlungsunfähig gewor- den war, dieſelbe Strafe treffen. Aber auch hier laſſe man ſich durch die bloße abſtracte Möglichkeit nicht ſchrecken; es kommt darauf an, wie es ſich im Leben machte. Und wie ganz anders ſich die Sache im Leben geſtaltete, als es nach dem abſtracten Rechte hätte ſein können, läßt ſich gerade hier an einem eklatan- ten Beiſpiel nachweiſen. Jenes Zerfleiſchen des Schuldners ſoll nach dem Bericht der Römer nie vorgenommen worden ſein. 198) Erklärlich! denn die verborgenen Zahlungsmittel und Hülfs- quellen des Schuldners brachte die bloße Drohung mit der „peinli- chen Frage“ an den Tag, und wo nichts vorhanden war, wagten die Gläubiger es in ihrem eigenen Intereſſe nicht, dem römiſchen Volk das Schauſpiel einer unmotivirten unmenſchlichen Grau- ſamkeit zu geben. Mit dem Verkauf in die Fremde hatte es wohl, eine ähnliche Bewandniß. Als Schreckmittel für einen zahlungs- fähigen, aber zahlungsunluſtigen Schuldner reichte er vollkom- men aus, bei verſchuldeter Inſolvenz mochte er oft genug wirklich zur Ausführung kommen, da hier eine Nachſicht von Seiten der Gläubiger oder eine Beihülfe von Seiten der Ver- wandten, Freunde u. ſ. w. vielleicht eben ſo ſelten, wie umge- kehrt bei unverſchuldeter Inſolvenz regelmäßig zu erwar- ten war. Damit wollen wir das Loos des Schuldners auch im letzten Fall keineswegs mit ſchönen Farben malen, denn die Ausſicht auf die Gefahr, die ihm drohte, brachte ihn ganz in die Hand des Gläubigers, und daß die Römer ſich einer ſol- chen Gewalt mit Schonung und Humanität bedient hätten, wird auch dem eifrigſten Verehrer derſelben nicht einfallen zu behaupten. Vielmehr iſt es begreiflich, daß der Gläubiger dem 198) Gell. XX. 1. Nihil profecto immitius, nihil immanius, nisi ut re ipsa apparet eo consilio tanta immanitas poenae denunciata est, ne ad eam unquam perveniretur .... dissectum esse antiquitus neminem equidem neque legi, neque audivi (dem Africanus in den Mund gelegt). Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 11

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/175>, abgerufen am 03.05.2024.