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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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A. Stellung des Indiv. Gesichtspunkt der Herrschaft. §. 31.
gewähren kein Bild der Institute, wie sie im Leben wirklich
bestanden, sondern eine bloße Silhouette. Die juristische
Abstraction hat nur die juristischen Contouren jener Ver-
hältnisse abzunehmen; mehr soll und darf sie nicht, wie bereits
oben bemerkt ward. So weit wie die Silhouette von dem Por-
trät, so weit ist dieser juristische Schattenriß von einem treuen
Bilde des römischen Lebens entfernt. Hier ist keine Farbe, kein
Licht, kein Schatten; der ganze physiognomische Ausdruck der
Institute fehlt. Dächte man sie sich so in der Wirklichkeit, so
seelenlos, so ausdruckslos, so todt: gewiß, unser Widerwille
wäre völlig begründet. Aber ein Römer würde uns wegen einer
solchen Vorstellung verlacht haben; er wußte, wofür er jene
Silhouette zu halten habe, und das Bild, das er sich von jenen
Instituten machte, und das er aus der Anschauung des wirk-
lichen Lebens schöpfte, war ein völlig anderes, und enthielt eine
Menge von Nüancen und charakteristischen Merkmalen, die wir
zu übersehen pflegen. Von den mannigfachen Beschränkun-
gen
der subjektiven Gewalt, von den besonderen Voraus-
setzungen
, von denen die Ausübung gewisser Rechte nicht de
jure,
aber de facto abhing u. s. w., von alle dem nehmen wir
in der juristischen Theorie nichts wahr, aber der Römer hatte
dies alles vor Augen. Denn jene abstracte Freiheit des Rechts
fand faktisch im römischen Leben Maß und Ziel. So lange sie
die richtigen Bahnen einhielt, so lange sie dem verständigen
Gebrauch diente, stieß sie auf keinen Widerstand. Aber so wie
sie sich aus Uebermuth übernehmen, im Vertrauen auf ihre
rechtliche Unbeschränktheit dieselbe mißbrauchen wollte,
begegnete ihr Widerstand von allen Seiten, und hier kamen
Ketten und Fesseln zum Vorschein, von denen freilich das Recht
nichts wußte, die aber nicht minder stark waren, als wenn das
Gesetz selbst sie geschmiedet hätte. Ob eine gesetzliche Vor-
schrift uns zwingt, oder irgend eine andere Macht, der sich
ebenso wenig trotzen läßt, z. B. die öffentliche Meinung, die
herrschenden Begriffe von Ehre u. s. w. ist für das Resultat

Jhering, Geist d. röm. Rechts. II. 10

A. Stellung des Indiv. Geſichtspunkt der Herrſchaft. §. 31.
gewähren kein Bild der Inſtitute, wie ſie im Leben wirklich
beſtanden, ſondern eine bloße Silhouette. Die juriſtiſche
Abſtraction hat nur die juriſtiſchen Contouren jener Ver-
hältniſſe abzunehmen; mehr ſoll und darf ſie nicht, wie bereits
oben bemerkt ward. So weit wie die Silhouette von dem Por-
trät, ſo weit iſt dieſer juriſtiſche Schattenriß von einem treuen
Bilde des römiſchen Lebens entfernt. Hier iſt keine Farbe, kein
Licht, kein Schatten; der ganze phyſiognomiſche Ausdruck der
Inſtitute fehlt. Dächte man ſie ſich ſo in der Wirklichkeit, ſo
ſeelenlos, ſo ausdruckslos, ſo todt: gewiß, unſer Widerwille
wäre völlig begründet. Aber ein Römer würde uns wegen einer
ſolchen Vorſtellung verlacht haben; er wußte, wofür er jene
Silhouette zu halten habe, und das Bild, das er ſich von jenen
Inſtituten machte, und das er aus der Anſchauung des wirk-
lichen Lebens ſchöpfte, war ein völlig anderes, und enthielt eine
Menge von Nüancen und charakteriſtiſchen Merkmalen, die wir
zu überſehen pflegen. Von den mannigfachen Beſchränkun-
gen
der ſubjektiven Gewalt, von den beſonderen Voraus-
ſetzungen
, von denen die Ausübung gewiſſer Rechte nicht de
jure,
aber de facto abhing u. ſ. w., von alle dem nehmen wir
in der juriſtiſchen Theorie nichts wahr, aber der Römer hatte
dies alles vor Augen. Denn jene abſtracte Freiheit des Rechts
fand faktiſch im römiſchen Leben Maß und Ziel. So lange ſie
die richtigen Bahnen einhielt, ſo lange ſie dem verſtändigen
Gebrauch diente, ſtieß ſie auf keinen Widerſtand. Aber ſo wie
ſie ſich aus Uebermuth übernehmen, im Vertrauen auf ihre
rechtliche Unbeſchränktheit dieſelbe mißbrauchen wollte,
begegnete ihr Widerſtand von allen Seiten, und hier kamen
Ketten und Feſſeln zum Vorſchein, von denen freilich das Recht
nichts wußte, die aber nicht minder ſtark waren, als wenn das
Geſetz ſelbſt ſie geſchmiedet hätte. Ob eine geſetzliche Vor-
ſchrift uns zwingt, oder irgend eine andere Macht, der ſich
ebenſo wenig trotzen läßt, z. B. die öffentliche Meinung, die
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Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 10
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[145/0159] A. Stellung des Indiv. Geſichtspunkt der Herrſchaft. §. 31. gewähren kein Bild der Inſtitute, wie ſie im Leben wirklich beſtanden, ſondern eine bloße Silhouette. Die juriſtiſche Abſtraction hat nur die juriſtiſchen Contouren jener Ver- hältniſſe abzunehmen; mehr ſoll und darf ſie nicht, wie bereits oben bemerkt ward. So weit wie die Silhouette von dem Por- trät, ſo weit iſt dieſer juriſtiſche Schattenriß von einem treuen Bilde des römiſchen Lebens entfernt. Hier iſt keine Farbe, kein Licht, kein Schatten; der ganze phyſiognomiſche Ausdruck der Inſtitute fehlt. Dächte man ſie ſich ſo in der Wirklichkeit, ſo ſeelenlos, ſo ausdruckslos, ſo todt: gewiß, unſer Widerwille wäre völlig begründet. Aber ein Römer würde uns wegen einer ſolchen Vorſtellung verlacht haben; er wußte, wofür er jene Silhouette zu halten habe, und das Bild, das er ſich von jenen Inſtituten machte, und das er aus der Anſchauung des wirk- lichen Lebens ſchöpfte, war ein völlig anderes, und enthielt eine Menge von Nüancen und charakteriſtiſchen Merkmalen, die wir zu überſehen pflegen. Von den mannigfachen Beſchränkun- gen der ſubjektiven Gewalt, von den beſonderen Voraus- ſetzungen, von denen die Ausübung gewiſſer Rechte nicht de jure, aber de facto abhing u. ſ. w., von alle dem nehmen wir in der juriſtiſchen Theorie nichts wahr, aber der Römer hatte dies alles vor Augen. Denn jene abſtracte Freiheit des Rechts fand faktiſch im römiſchen Leben Maß und Ziel. So lange ſie die richtigen Bahnen einhielt, ſo lange ſie dem verſtändigen Gebrauch diente, ſtieß ſie auf keinen Widerſtand. Aber ſo wie ſie ſich aus Uebermuth übernehmen, im Vertrauen auf ihre rechtliche Unbeſchränktheit dieſelbe mißbrauchen wollte, begegnete ihr Widerſtand von allen Seiten, und hier kamen Ketten und Feſſeln zum Vorſchein, von denen freilich das Recht nichts wußte, die aber nicht minder ſtark waren, als wenn das Geſetz ſelbſt ſie geſchmiedet hätte. Ob eine geſetzliche Vor- ſchrift uns zwingt, oder irgend eine andere Macht, der ſich ebenſo wenig trotzen läßt, z. B. die öffentliche Meinung, die herrſchenden Begriffe von Ehre u. ſ. w. iſt für das Reſultat Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. II. 10

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/159>, abgerufen am 03.05.2024.