Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
sich darauf beschränkt, die Erreichbarkeit jener Ziele bloß zu er-
möglichen
und zu erleichtern, die Verfolgung selbst aber
dem freien Walten des sittlichen Geistes und der nationalen und
individuellen Intelligenz anheimstellt. In diesem System
erscheinen die Staatsidee und die Idee der Frei-
heit im Einklang, und dieses System ist daher das
absolute Ideal, dem jedes Volk nachzustreben hat
.

Die bisherige Erörterung hatte zum Zweck, die Unvollkom-
menheit des Systems der Unfreiheit nachzuweisen. Wie nun aber
das Unvollkommene relativ berechtigt sein kann, so verhält es sich
auch mit diesem System. Nicht jedes Volk ist für die Freiheit
reif, und ohne Reife hat das System der Freiheit keine sittliche
Berechtigung. Es verhält sich in dieser Beziehung mit den Völ-
kern, wie mit den Individuen; auch sie bedürfen der Zucht in den
Jahren der Unmündigkeit, und zu diesem Zweck dient ihnen eben
unser System der Unfreiheit. In instinktartigem Gefühl ihrer
Schwäche und ihres Bedürfnisses erscheint ihnen dann dasselbe
nicht bloß nicht als eine Last, sondern als etwas Natürliches
und Nothwendiges. Ihr Rechtsgefühl reicht über ihre
Kräfte nicht hinaus
und würde daher das entgegengesetzte
System als ein berechtigtes gar nicht begreifen können. Dies ist
z. B. im wesentlichen der Standpunkt der orientalischen Völker;
der Gedanke der persönlichen in dem Subjekte selbst wurzelnden
Freiheit ist ihnen nie aufgegangen und würde ihnen in man-
chen Anwendungen, z. B. auf religiösem Gebiete, geradezu ein
Gräuel sein.

Die Kritik und Abwehr des Systems der Unfreiheit hat
uns zugleich positiv die Rechtfertigung des entgegengesetzten
Systems gegeben, aber hinsichtlich des letzteren bedarf es doch
noch einer Bemerkung.

Wenn wir im Bisherigen nachzuweisen versucht haben, daß
gerade die ächte Sittlichkeit dies System der Freiheit postulire,
so ist dies nicht so gemeint, als ob dasselbe überall, wo es sich
historisch zeigt, aus einer solchen sittlich würdigen Auffassung

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
ſich darauf beſchränkt, die Erreichbarkeit jener Ziele bloß zu er-
möglichen
und zu erleichtern, die Verfolgung ſelbſt aber
dem freien Walten des ſittlichen Geiſtes und der nationalen und
individuellen Intelligenz anheimſtellt. In dieſem Syſtem
erſcheinen die Staatsidee und die Idee der Frei-
heit im Einklang, und dieſes Syſtem iſt daher das
abſolute Ideal, dem jedes Volk nachzuſtreben hat
.

Die bisherige Erörterung hatte zum Zweck, die Unvollkom-
menheit des Syſtems der Unfreiheit nachzuweiſen. Wie nun aber
das Unvollkommene relativ berechtigt ſein kann, ſo verhält es ſich
auch mit dieſem Syſtem. Nicht jedes Volk iſt für die Freiheit
reif, und ohne Reife hat das Syſtem der Freiheit keine ſittliche
Berechtigung. Es verhält ſich in dieſer Beziehung mit den Völ-
kern, wie mit den Individuen; auch ſie bedürfen der Zucht in den
Jahren der Unmündigkeit, und zu dieſem Zweck dient ihnen eben
unſer Syſtem der Unfreiheit. In inſtinktartigem Gefühl ihrer
Schwäche und ihres Bedürfniſſes erſcheint ihnen dann daſſelbe
nicht bloß nicht als eine Laſt, ſondern als etwas Natürliches
und Nothwendiges. Ihr Rechtsgefühl reicht über ihre
Kräfte nicht hinaus
und würde daher das entgegengeſetzte
Syſtem als ein berechtigtes gar nicht begreifen können. Dies iſt
z. B. im weſentlichen der Standpunkt der orientaliſchen Völker;
der Gedanke der perſönlichen in dem Subjekte ſelbſt wurzelnden
Freiheit iſt ihnen nie aufgegangen und würde ihnen in man-
chen Anwendungen, z. B. auf religiöſem Gebiete, geradezu ein
Gräuel ſein.

Die Kritik und Abwehr des Syſtems der Unfreiheit hat
uns zugleich poſitiv die Rechtfertigung des entgegengeſetzten
Syſtems gegeben, aber hinſichtlich des letzteren bedarf es doch
noch einer Bemerkung.

Wenn wir im Bisherigen nachzuweiſen verſucht haben, daß
gerade die ächte Sittlichkeit dies Syſtem der Freiheit poſtulire,
ſo iſt dies nicht ſo gemeint, als ob daſſelbe überall, wo es ſich
hiſtoriſch zeigt, aus einer ſolchen ſittlich würdigen Auffaſſung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0146" n="132"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe.</fw><lb/>
&#x017F;ich darauf be&#x017F;chränkt, die Erreichbarkeit jener Ziele bloß zu <hi rendition="#g">er-<lb/>
möglichen</hi> und zu <hi rendition="#g">erleichtern</hi>, die Verfolgung &#x017F;elb&#x017F;t aber<lb/>
dem freien Walten des &#x017F;ittlichen Gei&#x017F;tes und der nationalen und<lb/>
individuellen Intelligenz anheim&#x017F;tellt. <hi rendition="#g">In die&#x017F;em Sy&#x017F;tem<lb/>
er&#x017F;cheinen die Staatsidee und die Idee der Frei-<lb/>
heit im Einklang, und die&#x017F;es Sy&#x017F;tem i&#x017F;t daher das<lb/>
ab&#x017F;olute Ideal, dem jedes Volk nachzu&#x017F;treben hat</hi>.</p><lb/>
                <p>Die bisherige Erörterung hatte zum Zweck, die Unvollkom-<lb/>
menheit des Sy&#x017F;tems der Unfreiheit nachzuwei&#x017F;en. Wie nun aber<lb/>
das Unvollkommene relativ berechtigt &#x017F;ein kann, &#x017F;o verhält es &#x017F;ich<lb/>
auch mit die&#x017F;em Sy&#x017F;tem. Nicht jedes Volk i&#x017F;t für die Freiheit<lb/>
reif, und ohne Reife hat das Sy&#x017F;tem der Freiheit keine &#x017F;ittliche<lb/>
Berechtigung. Es verhält &#x017F;ich in die&#x017F;er Beziehung mit den Völ-<lb/>
kern, wie mit den Individuen; auch &#x017F;ie bedürfen der Zucht in den<lb/>
Jahren der Unmündigkeit, und zu die&#x017F;em Zweck dient ihnen eben<lb/>
un&#x017F;er Sy&#x017F;tem der Unfreiheit. In in&#x017F;tinktartigem Gefühl ihrer<lb/>
Schwäche und ihres Bedürfni&#x017F;&#x017F;es er&#x017F;cheint ihnen dann da&#x017F;&#x017F;elbe<lb/>
nicht bloß nicht als eine La&#x017F;t, &#x017F;ondern als etwas Natürliches<lb/>
und Nothwendiges. <hi rendition="#g">Ihr Rechtsgefühl reicht über ihre<lb/>
Kräfte nicht hinaus</hi> und würde daher das entgegenge&#x017F;etzte<lb/>
Sy&#x017F;tem als ein berechtigtes gar nicht begreifen können. Dies i&#x017F;t<lb/>
z. B. im we&#x017F;entlichen der Standpunkt der orientali&#x017F;chen Völker;<lb/>
der Gedanke der per&#x017F;önlichen in dem Subjekte &#x017F;elb&#x017F;t wurzelnden<lb/>
Freiheit i&#x017F;t ihnen nie aufgegangen und würde ihnen in man-<lb/>
chen Anwendungen, z. B. auf religiö&#x017F;em Gebiete, geradezu ein<lb/>
Gräuel &#x017F;ein.</p><lb/>
                <p>Die Kritik und Abwehr des Sy&#x017F;tems der Unfreiheit hat<lb/>
uns zugleich po&#x017F;itiv die Rechtfertigung des entgegenge&#x017F;etzten<lb/>
Sy&#x017F;tems gegeben, aber hin&#x017F;ichtlich des letzteren bedarf es doch<lb/>
noch einer Bemerkung.</p><lb/>
                <p>Wenn wir im Bisherigen nachzuwei&#x017F;en ver&#x017F;ucht haben, daß<lb/>
gerade die ächte Sittlichkeit dies Sy&#x017F;tem der Freiheit po&#x017F;tulire,<lb/>
&#x017F;o i&#x017F;t dies nicht &#x017F;o gemeint, als ob da&#x017F;&#x017F;elbe überall, wo es &#x017F;ich<lb/>
hi&#x017F;tori&#x017F;ch zeigt, aus einer &#x017F;olchen &#x017F;ittlich würdigen Auffa&#x017F;&#x017F;ung<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[132/0146] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. ſich darauf beſchränkt, die Erreichbarkeit jener Ziele bloß zu er- möglichen und zu erleichtern, die Verfolgung ſelbſt aber dem freien Walten des ſittlichen Geiſtes und der nationalen und individuellen Intelligenz anheimſtellt. In dieſem Syſtem erſcheinen die Staatsidee und die Idee der Frei- heit im Einklang, und dieſes Syſtem iſt daher das abſolute Ideal, dem jedes Volk nachzuſtreben hat. Die bisherige Erörterung hatte zum Zweck, die Unvollkom- menheit des Syſtems der Unfreiheit nachzuweiſen. Wie nun aber das Unvollkommene relativ berechtigt ſein kann, ſo verhält es ſich auch mit dieſem Syſtem. Nicht jedes Volk iſt für die Freiheit reif, und ohne Reife hat das Syſtem der Freiheit keine ſittliche Berechtigung. Es verhält ſich in dieſer Beziehung mit den Völ- kern, wie mit den Individuen; auch ſie bedürfen der Zucht in den Jahren der Unmündigkeit, und zu dieſem Zweck dient ihnen eben unſer Syſtem der Unfreiheit. In inſtinktartigem Gefühl ihrer Schwäche und ihres Bedürfniſſes erſcheint ihnen dann daſſelbe nicht bloß nicht als eine Laſt, ſondern als etwas Natürliches und Nothwendiges. Ihr Rechtsgefühl reicht über ihre Kräfte nicht hinaus und würde daher das entgegengeſetzte Syſtem als ein berechtigtes gar nicht begreifen können. Dies iſt z. B. im weſentlichen der Standpunkt der orientaliſchen Völker; der Gedanke der perſönlichen in dem Subjekte ſelbſt wurzelnden Freiheit iſt ihnen nie aufgegangen und würde ihnen in man- chen Anwendungen, z. B. auf religiöſem Gebiete, geradezu ein Gräuel ſein. Die Kritik und Abwehr des Syſtems der Unfreiheit hat uns zugleich poſitiv die Rechtfertigung des entgegengeſetzten Syſtems gegeben, aber hinſichtlich des letzteren bedarf es doch noch einer Bemerkung. Wenn wir im Bisherigen nachzuweiſen verſucht haben, daß gerade die ächte Sittlichkeit dies Syſtem der Freiheit poſtulire, ſo iſt dies nicht ſo gemeint, als ob daſſelbe überall, wo es ſich hiſtoriſch zeigt, aus einer ſolchen ſittlich würdigen Auffaſſung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/146
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/146>, abgerufen am 23.11.2024.