Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
Jene Unterschiede hingegen, die sich im germanischen Recht als
so außerordentlich ergiebig bewährt haben, die des Berufs, der
Lebensstellung u. s. w. sind hier so gut wie wirkungslos ge-
blieben. 101)

Was ist der Grund? Hat man sich die Sache so vorzu-
stellen, das deutsche Recht habe dem Partikularisirungstriebe
des Lebens die gebührende Anerkennung gewährt, das römische
sie ihm versagt? Nichts wäre meiner Ansicht nach verkehrter.
Nicht weniger als in Deutschland konnte sich auch in Rom jedes
partikuläre Rechtsbedürfniß befriedigen, d. h. jeder Stand und
jede Berufsart konnte sich auch hier seine Rechtssphäre ganz
seinem Bedürfniß gemäß gestalten, sich völlig frei bewegen; es
war dies eine Folge des Prinzips der Autonomie, das in Rom
im weitesten Umfange zugelassen war. Erheischte z. B. in Rom
wie in Deutschland das Familieninteresse des Adels für das
Erbrecht eine Bevorzugung der Söhne vor den Töchtern, des
Erstgebornen vor dem Nachgebornen, so ließ sich dies in jeder
Generation durch das Testament des jeweiligen Familienober-
hauptes bewerkstelligen; bedurfte es für den Handelsverkehr
nach Art unseres Wechselrechts eines besonders strengen obliga-
torischen Bandes, so konnten die Contrahenten durch die Gestal-
tung der Verträge dies Bedürfniß selbst befriedigen; glaubten
Corporationen eigenthümliche Normen nöthig zu haben, so

101) Es ließen sich etwa nennen die Vorrechte der Soldaten (pignoris
capio Gaj. IV. §. 27;
das testamentum in procinctu war im Grunde ein
Testament vor der Volksversammlung), der Publikanen (pign. capio Cicero in
Verrem III. 11. Gaj. IV.
§. 32.), der vestalischen Jungfrauen und des
flamen dialis, aber wie unbedeutend sind diese Privilegien selbst gegenüber
denen des späteren römischen Rechts! Die wenigen Eigenthümlichkeiten des
römischen Handels rechts (das agere cum compensatione des argentarius
Gaj. IV. §. 64,
die gegen ihn statt findende act. receptitia Theophilus IV,
6 §. 8,
die actio gegen den socius des argentarius, Auct. ad Heren. II.
c. 13,
die actio exercitoria und institoria) fallen gewiß in eine spätere
Zeit.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Jene Unterſchiede hingegen, die ſich im germaniſchen Recht als
ſo außerordentlich ergiebig bewährt haben, die des Berufs, der
Lebensſtellung u. ſ. w. ſind hier ſo gut wie wirkungslos ge-
blieben. 101)

Was iſt der Grund? Hat man ſich die Sache ſo vorzu-
ſtellen, das deutſche Recht habe dem Partikulariſirungstriebe
des Lebens die gebührende Anerkennung gewährt, das römiſche
ſie ihm verſagt? Nichts wäre meiner Anſicht nach verkehrter.
Nicht weniger als in Deutſchland konnte ſich auch in Rom jedes
partikuläre Rechtsbedürfniß befriedigen, d. h. jeder Stand und
jede Berufsart konnte ſich auch hier ſeine Rechtsſphäre ganz
ſeinem Bedürfniß gemäß geſtalten, ſich völlig frei bewegen; es
war dies eine Folge des Prinzips der Autonomie, das in Rom
im weiteſten Umfange zugelaſſen war. Erheiſchte z. B. in Rom
wie in Deutſchland das Familienintereſſe des Adels für das
Erbrecht eine Bevorzugung der Söhne vor den Töchtern, des
Erſtgebornen vor dem Nachgebornen, ſo ließ ſich dies in jeder
Generation durch das Teſtament des jeweiligen Familienober-
hauptes bewerkſtelligen; bedurfte es für den Handelsverkehr
nach Art unſeres Wechſelrechts eines beſonders ſtrengen obliga-
toriſchen Bandes, ſo konnten die Contrahenten durch die Geſtal-
tung der Verträge dies Bedürfniß ſelbſt befriedigen; glaubten
Corporationen eigenthümliche Normen nöthig zu haben, ſo

101) Es ließen ſich etwa nennen die Vorrechte der Soldaten (pignoris
capio Gaj. IV. §. 27;
das testamentum in procinctu war im Grunde ein
Teſtament vor der Volksverſammlung), der Publikanen (pign. capio Cicero in
Verrem III. 11. Gaj. IV.
§. 32.), der veſtaliſchen Jungfrauen und des
flamen dialis, aber wie unbedeutend ſind dieſe Privilegien ſelbſt gegenüber
denen des ſpäteren römiſchen Rechts! Die wenigen Eigenthümlichkeiten des
römiſchen Handels rechts (das agere cum compensatione des argentarius
Gaj. IV. §. 64,
die gegen ihn ſtatt findende act. receptitia Theophilus IV,
6 §. 8,
die actio gegen den socius des argentarius, Auct. ad Heren. II.
c. 13,
die actio exercitoria und institoria) fallen gewiß in eine ſpätere
Zeit.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0114" n="100"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Er&#x017F;ter Ab&#x017F;chnitt. <hi rendition="#aq">II.</hi> Die Grundtriebe.</fw><lb/>
Jene Unter&#x017F;chiede hingegen, die &#x017F;ich im germani&#x017F;chen Recht als<lb/>
&#x017F;o außerordentlich ergiebig bewährt haben, die des Berufs, der<lb/>
Lebens&#x017F;tellung u. &#x017F;. w. &#x017F;ind hier &#x017F;o gut wie wirkungslos ge-<lb/>
blieben. <note place="foot" n="101)">Es ließen &#x017F;ich etwa nennen die Vorrechte der Soldaten (<hi rendition="#aq">pignoris<lb/>
capio Gaj. IV. §. 27;</hi> das <hi rendition="#aq">testamentum in procinctu</hi> war im Grunde ein<lb/>
Te&#x017F;tament vor der Volksver&#x017F;ammlung), der Publikanen (<hi rendition="#aq">pign. capio Cicero in<lb/>
Verrem III. 11. Gaj. IV.</hi> §. 32.), der ve&#x017F;tali&#x017F;chen Jungfrauen und des<lb/><hi rendition="#aq">flamen dialis,</hi> aber wie unbedeutend &#x017F;ind die&#x017F;e Privilegien &#x017F;elb&#x017F;t gegenüber<lb/>
denen des &#x017F;päteren römi&#x017F;chen Rechts! Die wenigen Eigenthümlichkeiten des<lb/>
römi&#x017F;chen <hi rendition="#g">Handels</hi> rechts (das <hi rendition="#aq">agere cum compensatione</hi> des <hi rendition="#aq">argentarius<lb/>
Gaj. IV. §. 64,</hi> die gegen ihn &#x017F;tatt findende <hi rendition="#aq">act. receptitia Theophilus IV,<lb/>
6 §. 8,</hi> die <hi rendition="#aq">actio</hi> gegen den <hi rendition="#aq">socius</hi> des <hi rendition="#aq">argentarius, Auct. ad Heren. II.<lb/>
c. 13,</hi> die <hi rendition="#aq">actio exercitoria</hi> und <hi rendition="#aq">institoria</hi>) fallen gewiß in eine &#x017F;pätere<lb/>
Zeit.</note></p><lb/>
                <p>Was i&#x017F;t der Grund? Hat man &#x017F;ich die Sache &#x017F;o vorzu-<lb/>
&#x017F;tellen, das deut&#x017F;che Recht habe dem Partikulari&#x017F;irungstriebe<lb/>
des Lebens die gebührende Anerkennung gewährt, das römi&#x017F;che<lb/>
&#x017F;ie ihm ver&#x017F;agt? Nichts wäre meiner An&#x017F;icht nach verkehrter.<lb/>
Nicht weniger als in Deut&#x017F;chland konnte &#x017F;ich auch in Rom jedes<lb/>
partikuläre Rechtsbedürfniß befriedigen, d. h. jeder Stand und<lb/>
jede Berufsart konnte &#x017F;ich auch hier &#x017F;eine Rechts&#x017F;phäre ganz<lb/>
&#x017F;einem Bedürfniß gemäß ge&#x017F;talten, &#x017F;ich völlig frei bewegen; es<lb/>
war dies eine Folge des Prinzips der Autonomie, das in Rom<lb/>
im weite&#x017F;ten Umfange zugela&#x017F;&#x017F;en war. Erhei&#x017F;chte z. B. in Rom<lb/>
wie in Deut&#x017F;chland das Familienintere&#x017F;&#x017F;e des Adels für das<lb/>
Erbrecht eine Bevorzugung der Söhne vor den Töchtern, des<lb/>
Er&#x017F;tgebornen vor dem Nachgebornen, &#x017F;o ließ &#x017F;ich dies in jeder<lb/>
Generation durch das Te&#x017F;tament des jeweiligen Familienober-<lb/>
hauptes bewerk&#x017F;telligen; bedurfte es für den Handelsverkehr<lb/>
nach Art un&#x017F;eres Wech&#x017F;elrechts eines be&#x017F;onders &#x017F;trengen obliga-<lb/>
tori&#x017F;chen Bandes, &#x017F;o konnten die Contrahenten durch die Ge&#x017F;tal-<lb/>
tung der Verträge dies Bedürfniß &#x017F;elb&#x017F;t befriedigen; glaubten<lb/>
Corporationen eigenthümliche Normen nöthig zu haben, &#x017F;o<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[100/0114] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. Jene Unterſchiede hingegen, die ſich im germaniſchen Recht als ſo außerordentlich ergiebig bewährt haben, die des Berufs, der Lebensſtellung u. ſ. w. ſind hier ſo gut wie wirkungslos ge- blieben. 101) Was iſt der Grund? Hat man ſich die Sache ſo vorzu- ſtellen, das deutſche Recht habe dem Partikulariſirungstriebe des Lebens die gebührende Anerkennung gewährt, das römiſche ſie ihm verſagt? Nichts wäre meiner Anſicht nach verkehrter. Nicht weniger als in Deutſchland konnte ſich auch in Rom jedes partikuläre Rechtsbedürfniß befriedigen, d. h. jeder Stand und jede Berufsart konnte ſich auch hier ſeine Rechtsſphäre ganz ſeinem Bedürfniß gemäß geſtalten, ſich völlig frei bewegen; es war dies eine Folge des Prinzips der Autonomie, das in Rom im weiteſten Umfange zugelaſſen war. Erheiſchte z. B. in Rom wie in Deutſchland das Familienintereſſe des Adels für das Erbrecht eine Bevorzugung der Söhne vor den Töchtern, des Erſtgebornen vor dem Nachgebornen, ſo ließ ſich dies in jeder Generation durch das Teſtament des jeweiligen Familienober- hauptes bewerkſtelligen; bedurfte es für den Handelsverkehr nach Art unſeres Wechſelrechts eines beſonders ſtrengen obliga- toriſchen Bandes, ſo konnten die Contrahenten durch die Geſtal- tung der Verträge dies Bedürfniß ſelbſt befriedigen; glaubten Corporationen eigenthümliche Normen nöthig zu haben, ſo 101) Es ließen ſich etwa nennen die Vorrechte der Soldaten (pignoris capio Gaj. IV. §. 27; das testamentum in procinctu war im Grunde ein Teſtament vor der Volksverſammlung), der Publikanen (pign. capio Cicero in Verrem III. 11. Gaj. IV. §. 32.), der veſtaliſchen Jungfrauen und des flamen dialis, aber wie unbedeutend ſind dieſe Privilegien ſelbſt gegenüber denen des ſpäteren römiſchen Rechts! Die wenigen Eigenthümlichkeiten des römiſchen Handels rechts (das agere cum compensatione des argentarius Gaj. IV. §. 64, die gegen ihn ſtatt findende act. receptitia Theophilus IV, 6 §. 8, die actio gegen den socius des argentarius, Auct. ad Heren. II. c. 13, die actio exercitoria und institoria) fallen gewiß in eine ſpätere Zeit.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/114
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/114>, abgerufen am 06.05.2024.