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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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II. Der Gleichheitstrieb -- Ungleichheit vor dem Gesetz. §. 29.
gesetzgebende Gewalt auszuüben und in seinem egoistischen
Interesse auszubeuten verstand.

Daß sie einen Verstoß gegen die Idee der Gerechtigkeit
enthalten, eine Partheilichkeit und Willkühr, die mit der des
Richters auf völlig gleicher Stufe steht, ist unschwer zu ersehen.
Soll der Richter Niemanden bevorzugen, wie dürfte es der Ge-
setzgeber? Auch er soll seine Macht nur im Dienst der Gerech-
tigkeit benutzen; wie könnte Gleichheit das höchste Gesetz und
das Ziel der richterlichen Gewalt sein, wenn sie es nicht schon
für den Gesetzgeber selbst wäre?

Dieser Unterschied zwischen rechtlichen Ungleichheiten und
Verschiedenheiten ist nun nicht bloß in der Idee begründet, son-
dern er lebt auch im Gefühl der Völker. In der Anwendung
desselben können sie freilich sehr divergiren; was dieser Zeit
als eine durch innere und äußere Gründe gebotene rechtliche
Verschiedenheit erscheint, darin findet eine folgende vielleicht
eine schreiende Ungleichheit vor dem Gesetz. Der Grund dieser
Differenz ist einmal ein objektiver, nämlich die Verschiedenheit
der historischen Voraussetzungen; mit letzteren selbst steht und
fällt die relative Berechtigung eines Instituts. Sodann aber ist
der Grund auch ein subjektiver, nämlich die verschiedene Reizbar-
keit und Empfänglichkeit des nationalen Rechtsgefühls. Es hat
vielleicht nie ein Volk gegeben, bei dem dieselbe einen so hohen
Grad erreicht hätte, als bei den alten Römern. In ihrer Ab-
neigung gegen jede Ungleichheit vor dem Gesetz gingen sie so-
weit, daß sie selbst natürlichen Unterschieden, die wohl überall
rechtliche Beachtung gefunden haben, dieselbe versagten oder
wenigstens möglichst eng zumaßen. Darum kennt das ältere
Recht nicht bloß kein einziges Vorrecht, kein eigentliches Privi-
legium eines einzelnen Standes 100) (von den Patriciern und
Plebejern wird gleich die Rede sein), sondern dasselbe nimmt

100) Daß die Ehrenrechte der weltlichen und geistlichen Beamten damit
nicht in Widerspruch stehen, braucht wohl kaum bemerkt zu werden. Was
sonst an Privilegien sich etwa aufführen ließe, wird unten berücksichtigt werden.

II. Der Gleichheitstrieb — Ungleichheit vor dem Geſetz. §. 29.
geſetzgebende Gewalt auszuüben und in ſeinem egoiſtiſchen
Intereſſe auszubeuten verſtand.

Daß ſie einen Verſtoß gegen die Idee der Gerechtigkeit
enthalten, eine Partheilichkeit und Willkühr, die mit der des
Richters auf völlig gleicher Stufe ſteht, iſt unſchwer zu erſehen.
Soll der Richter Niemanden bevorzugen, wie dürfte es der Ge-
ſetzgeber? Auch er ſoll ſeine Macht nur im Dienſt der Gerech-
tigkeit benutzen; wie könnte Gleichheit das höchſte Geſetz und
das Ziel der richterlichen Gewalt ſein, wenn ſie es nicht ſchon
für den Geſetzgeber ſelbſt wäre?

Dieſer Unterſchied zwiſchen rechtlichen Ungleichheiten und
Verſchiedenheiten iſt nun nicht bloß in der Idee begründet, ſon-
dern er lebt auch im Gefühl der Völker. In der Anwendung
deſſelben können ſie freilich ſehr divergiren; was dieſer Zeit
als eine durch innere und äußere Gründe gebotene rechtliche
Verſchiedenheit erſcheint, darin findet eine folgende vielleicht
eine ſchreiende Ungleichheit vor dem Geſetz. Der Grund dieſer
Differenz iſt einmal ein objektiver, nämlich die Verſchiedenheit
der hiſtoriſchen Vorausſetzungen; mit letzteren ſelbſt ſteht und
fällt die relative Berechtigung eines Inſtituts. Sodann aber iſt
der Grund auch ein ſubjektiver, nämlich die verſchiedene Reizbar-
keit und Empfänglichkeit des nationalen Rechtsgefühls. Es hat
vielleicht nie ein Volk gegeben, bei dem dieſelbe einen ſo hohen
Grad erreicht hätte, als bei den alten Römern. In ihrer Ab-
neigung gegen jede Ungleichheit vor dem Geſetz gingen ſie ſo-
weit, daß ſie ſelbſt natürlichen Unterſchieden, die wohl überall
rechtliche Beachtung gefunden haben, dieſelbe verſagten oder
wenigſtens möglichſt eng zumaßen. Darum kennt das ältere
Recht nicht bloß kein einziges Vorrecht, kein eigentliches Privi-
legium eines einzelnen Standes 100) (von den Patriciern und
Plebejern wird gleich die Rede ſein), ſondern daſſelbe nimmt

100) Daß die Ehrenrechte der weltlichen und geiſtlichen Beamten damit
nicht in Widerſpruch ſtehen, braucht wohl kaum bemerkt zu werden. Was
ſonſt an Privilegien ſich etwa aufführen ließe, wird unten berückſichtigt werden.
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[95/0109] II. Der Gleichheitstrieb — Ungleichheit vor dem Geſetz. §. 29. geſetzgebende Gewalt auszuüben und in ſeinem egoiſtiſchen Intereſſe auszubeuten verſtand. Daß ſie einen Verſtoß gegen die Idee der Gerechtigkeit enthalten, eine Partheilichkeit und Willkühr, die mit der des Richters auf völlig gleicher Stufe ſteht, iſt unſchwer zu erſehen. Soll der Richter Niemanden bevorzugen, wie dürfte es der Ge- ſetzgeber? Auch er ſoll ſeine Macht nur im Dienſt der Gerech- tigkeit benutzen; wie könnte Gleichheit das höchſte Geſetz und das Ziel der richterlichen Gewalt ſein, wenn ſie es nicht ſchon für den Geſetzgeber ſelbſt wäre? Dieſer Unterſchied zwiſchen rechtlichen Ungleichheiten und Verſchiedenheiten iſt nun nicht bloß in der Idee begründet, ſon- dern er lebt auch im Gefühl der Völker. In der Anwendung deſſelben können ſie freilich ſehr divergiren; was dieſer Zeit als eine durch innere und äußere Gründe gebotene rechtliche Verſchiedenheit erſcheint, darin findet eine folgende vielleicht eine ſchreiende Ungleichheit vor dem Geſetz. Der Grund dieſer Differenz iſt einmal ein objektiver, nämlich die Verſchiedenheit der hiſtoriſchen Vorausſetzungen; mit letzteren ſelbſt ſteht und fällt die relative Berechtigung eines Inſtituts. Sodann aber iſt der Grund auch ein ſubjektiver, nämlich die verſchiedene Reizbar- keit und Empfänglichkeit des nationalen Rechtsgefühls. Es hat vielleicht nie ein Volk gegeben, bei dem dieſelbe einen ſo hohen Grad erreicht hätte, als bei den alten Römern. In ihrer Ab- neigung gegen jede Ungleichheit vor dem Geſetz gingen ſie ſo- weit, daß ſie ſelbſt natürlichen Unterſchieden, die wohl überall rechtliche Beachtung gefunden haben, dieſelbe verſagten oder wenigſtens möglichſt eng zumaßen. Darum kennt das ältere Recht nicht bloß kein einziges Vorrecht, kein eigentliches Privi- legium eines einzelnen Standes 100) (von den Patriciern und Plebejern wird gleich die Rede ſein), ſondern daſſelbe nimmt 100) Daß die Ehrenrechte der weltlichen und geiſtlichen Beamten damit nicht in Widerſpruch ſtehen, braucht wohl kaum bemerkt zu werden. Was ſonſt an Privilegien ſich etwa aufführen ließe, wird unten berückſichtigt werden.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/109>, abgerufen am 25.11.2024.