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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt. II. Die Grundtriebe.
Zwölftafel-Gesetzgebung finis aequi juris nennt)! Hat doch das
spätere Recht diesen Ausdruck ausschließlich für sich in Anspruch
genommen, und ist er es doch gerade, mittelst dessen dasselbe
sich als billiges Recht zu dem strengen (strictum jus) der ältern
Zeit in Gegensatz stellt. Das Urtheil, welches die spätere Zeit
über letzteres fällte, ist in dem bekannten Satz: summum jus,
summa injuria
ausgedrückt, der Vorwurf nämlich, daß die
Gleichheitstendenz des ältern Rechts in Wirklichkeit die äußerste
Ungleichheit zur Folge gehabt habe. Die Billigkeit des spätern
Rechts würde dagegen der ältern Zeit als eine aus übertriebener
Milde hervorgegangene Abweichung von der wahren Gleich-
heit haben erscheinen müssen, während sie umgekehrt einem ver-
weichlichten Billigkeitsgefühl, vielleicht stellenweise noch den
Eindruck einer zu großen Strenge machen könnte.91)

Welche Bewandniß hat es nun mit dieser Gleichheit, wo-
her die Erscheinung, daß trotz des gleichmäßigen Strebens aller
Zeiten, die Gleichheit im Recht herzustellen, doch die Resultate
so unendlich variiren? Dies hat nicht bloß darin seinen Grund,
daß die Gegenstände selbst, die, wenn ich so sagen darf, auf der
Wage der Gerechtigkeit gewogen werden sollen, ihr Gewicht
im Lauf der Zeit verändern, daß Unterschiede, die in früher Zeit
kaum wahrnehmbar waren, späterhin groß und bedeutend ge-
worden sind, sondern auch und vor allem darin, daß Wage und
Gewicht der verschiedenen Zeiten so außerordentlich differiren.
Auf Unterschiede, die, gemessen mit der feineren Wage dieser
Zeit, sich als sehr beträchtlich herausstellen, wird die rohe Wage
jener Zeit kaum reagiren.

Der Weg, auf dem ein jedes Recht die Gleichheit verfolgt

91) Die Relativität des Begriffs der Billigkeit ist von Thöl in seiner Ein-
leitung in das deutsche Privatrecht §. 18 mit gewohnter Schärfe und Klar-
heit hervorgehoben worden; nirgends wohl fand er bei seiner höchst aner-
kennenswerthen Antipathie gegen alle unklaren Vorstellungen ein so dank-
bares Objekt für seine Thätigkeit, einen solchen Augiasstall vor, als bei dem
Kapitel von der Billigkeit.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe.
Zwölftafel-Geſetzgebung finis aequi juris nennt)! Hat doch das
ſpätere Recht dieſen Ausdruck ausſchließlich für ſich in Anſpruch
genommen, und iſt er es doch gerade, mittelſt deſſen daſſelbe
ſich als billiges Recht zu dem ſtrengen (strictum jus) der ältern
Zeit in Gegenſatz ſtellt. Das Urtheil, welches die ſpätere Zeit
über letzteres fällte, iſt in dem bekannten Satz: summum jus,
summa injuria
ausgedrückt, der Vorwurf nämlich, daß die
Gleichheitstendenz des ältern Rechts in Wirklichkeit die äußerſte
Ungleichheit zur Folge gehabt habe. Die Billigkeit des ſpätern
Rechts würde dagegen der ältern Zeit als eine aus übertriebener
Milde hervorgegangene Abweichung von der wahren Gleich-
heit haben erſcheinen müſſen, während ſie umgekehrt einem ver-
weichlichten Billigkeitsgefühl, vielleicht ſtellenweiſe noch den
Eindruck einer zu großen Strenge machen könnte.91)

Welche Bewandniß hat es nun mit dieſer Gleichheit, wo-
her die Erſcheinung, daß trotz des gleichmäßigen Strebens aller
Zeiten, die Gleichheit im Recht herzuſtellen, doch die Reſultate
ſo unendlich variiren? Dies hat nicht bloß darin ſeinen Grund,
daß die Gegenſtände ſelbſt, die, wenn ich ſo ſagen darf, auf der
Wage der Gerechtigkeit gewogen werden ſollen, ihr Gewicht
im Lauf der Zeit verändern, daß Unterſchiede, die in früher Zeit
kaum wahrnehmbar waren, ſpäterhin groß und bedeutend ge-
worden ſind, ſondern auch und vor allem darin, daß Wage und
Gewicht der verſchiedenen Zeiten ſo außerordentlich differiren.
Auf Unterſchiede, die, gemeſſen mit der feineren Wage dieſer
Zeit, ſich als ſehr beträchtlich herausſtellen, wird die rohe Wage
jener Zeit kaum reagiren.

Der Weg, auf dem ein jedes Recht die Gleichheit verfolgt

91) Die Relativität des Begriffs der Billigkeit iſt von Thöl in ſeiner Ein-
leitung in das deutſche Privatrecht §. 18 mit gewohnter Schärfe und Klar-
heit hervorgehoben worden; nirgends wohl fand er bei ſeiner höchſt aner-
kennenswerthen Antipathie gegen alle unklaren Vorſtellungen ein ſo dank-
bares Objekt für ſeine Thätigkeit, einen ſolchen Augiasſtall vor, als bei dem
Kapitel von der Billigkeit.
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[90/0104] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. II. Die Grundtriebe. Zwölftafel-Geſetzgebung finis aequi juris nennt)! Hat doch das ſpätere Recht dieſen Ausdruck ausſchließlich für ſich in Anſpruch genommen, und iſt er es doch gerade, mittelſt deſſen daſſelbe ſich als billiges Recht zu dem ſtrengen (strictum jus) der ältern Zeit in Gegenſatz ſtellt. Das Urtheil, welches die ſpätere Zeit über letzteres fällte, iſt in dem bekannten Satz: summum jus, summa injuria ausgedrückt, der Vorwurf nämlich, daß die Gleichheitstendenz des ältern Rechts in Wirklichkeit die äußerſte Ungleichheit zur Folge gehabt habe. Die Billigkeit des ſpätern Rechts würde dagegen der ältern Zeit als eine aus übertriebener Milde hervorgegangene Abweichung von der wahren Gleich- heit haben erſcheinen müſſen, während ſie umgekehrt einem ver- weichlichten Billigkeitsgefühl, vielleicht ſtellenweiſe noch den Eindruck einer zu großen Strenge machen könnte. 91) Welche Bewandniß hat es nun mit dieſer Gleichheit, wo- her die Erſcheinung, daß trotz des gleichmäßigen Strebens aller Zeiten, die Gleichheit im Recht herzuſtellen, doch die Reſultate ſo unendlich variiren? Dies hat nicht bloß darin ſeinen Grund, daß die Gegenſtände ſelbſt, die, wenn ich ſo ſagen darf, auf der Wage der Gerechtigkeit gewogen werden ſollen, ihr Gewicht im Lauf der Zeit verändern, daß Unterſchiede, die in früher Zeit kaum wahrnehmbar waren, ſpäterhin groß und bedeutend ge- worden ſind, ſondern auch und vor allem darin, daß Wage und Gewicht der verſchiedenen Zeiten ſo außerordentlich differiren. Auf Unterſchiede, die, gemeſſen mit der feineren Wage dieſer Zeit, ſich als ſehr beträchtlich herausſtellen, wird die rohe Wage jener Zeit kaum reagiren. Der Weg, auf dem ein jedes Recht die Gleichheit verfolgt 91) Die Relativität des Begriffs der Billigkeit iſt von Thöl in ſeiner Ein- leitung in das deutſche Privatrecht §. 18 mit gewohnter Schärfe und Klar- heit hervorgehoben worden; nirgends wohl fand er bei ſeiner höchſt aner- kennenswerthen Antipathie gegen alle unklaren Vorſtellungen ein ſo dank- bares Objekt für ſeine Thätigkeit, einen ſolchen Augiasſtall vor, als bei dem Kapitel von der Billigkeit.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 2, Bd. 1. Leipzig, 1854, S. 90. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht0201_1854/104>, abgerufen am 24.11.2024.