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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Langsamkeit der Entwicklung des Rechts. §. 5.
allmähligen und unmerklichen Niederschlag der Atome sich an-
setzen und ablagern, so daß die Bildung einer neuen Formation
viele Jahrhunderte erfordern kann. 30) Der Grund dieser unge-
wöhnlichen Schwerfälligkeit des Rechts ist leicht zu finden; es
ist derselbe, aus dem die Entwicklung des Charakters langsamer,
mühsamer von Statten geht, als die intellektuelle Ausbildung.
Der Charakter eines Individuums und ein Recht -- letzteres ist
ja der Charakter eines Volksindividuums -- die sich beständig
ändern, die nach Art der intellektuellen Thätigkeit in beständiger
Bewegung und Spannung begriffen sind, taugen beide nicht
viel. Eine gewisse Stetigkeit und Hartnäckigkeit ist bei beiden das
Zeichen der Gesundheit und Kraft. Wenn jede Generation das
von der Vergangenheit ererbte Recht als "eine ewige Krankheit"
von sich stoßen und dafür das Recht, "das mit uns geboren", an die
Stelle setzen wollte, so würde die sittliche Kraft des Rechts über
die Gemüther rasch abnehmen, und das Recht im ewigen Rollen
begriffen dem Abgrunde entgegeneilen. Je leichter, rascher und
häufiger in einem Staat das Recht producirt, desto geringer jene
moralische Kraft; 31) je seltner diese Productionen, je länger der
Zwischenraum zwischen der Empfängniß und der Geburt, je
schmerzhafter die Geburtswehen, desto fester und kräftiger das
Product. Darum kann das Recht nur bei einem willenskräftigen
Volk gedeihen, denn nur bei einem solchen Volk ist die conser-
vative wie progressive Kraft in dem Maße ausgebildet, daß das
Recht nur unter Schmerzen gebären kann. Als Beispiel nenne
ich das ältere Rom und England; für das gegenüberstehende

30) Am meisten Aehnlichkeit hat auch in dieser Beziehung mit dem Recht
die Sprache. Die Verschiedenheit des Nationalcharakters bewirkt auch hier
eine große Abstufung der Bildsamkeit, wofür beispielsweise auf "die größere
Tenacität des Dorismus am Alten und die versatilere Volubilität der Mund-
arten Jonischen Stammes" verwiesen werden mag.
31) Perditissima republica plurimae leges. Auch bei Individuen ist
ja die Productivität an guten Vorsätzen ein Zeichen von Charakterschwäche.

Langſamkeit der Entwicklung des Rechts. §. 5.
allmähligen und unmerklichen Niederſchlag der Atome ſich an-
ſetzen und ablagern, ſo daß die Bildung einer neuen Formation
viele Jahrhunderte erfordern kann. 30) Der Grund dieſer unge-
wöhnlichen Schwerfälligkeit des Rechts iſt leicht zu finden; es
iſt derſelbe, aus dem die Entwicklung des Charakters langſamer,
mühſamer von Statten geht, als die intellektuelle Ausbildung.
Der Charakter eines Individuums und ein Recht — letzteres iſt
ja der Charakter eines Volksindividuums — die ſich beſtändig
ändern, die nach Art der intellektuellen Thätigkeit in beſtändiger
Bewegung und Spannung begriffen ſind, taugen beide nicht
viel. Eine gewiſſe Stetigkeit und Hartnäckigkeit iſt bei beiden das
Zeichen der Geſundheit und Kraft. Wenn jede Generation das
von der Vergangenheit ererbte Recht als „eine ewige Krankheit“
von ſich ſtoßen und dafür das Recht, „das mit uns geboren“, an die
Stelle ſetzen wollte, ſo würde die ſittliche Kraft des Rechts über
die Gemüther raſch abnehmen, und das Recht im ewigen Rollen
begriffen dem Abgrunde entgegeneilen. Je leichter, raſcher und
häufiger in einem Staat das Recht producirt, deſto geringer jene
moraliſche Kraft; 31) je ſeltner dieſe Productionen, je länger der
Zwiſchenraum zwiſchen der Empfängniß und der Geburt, je
ſchmerzhafter die Geburtswehen, deſto feſter und kräftiger das
Product. Darum kann das Recht nur bei einem willenskräftigen
Volk gedeihen, denn nur bei einem ſolchen Volk iſt die conſer-
vative wie progreſſive Kraft in dem Maße ausgebildet, daß das
Recht nur unter Schmerzen gebären kann. Als Beiſpiel nenne
ich das ältere Rom und England; für das gegenüberſtehende

30) Am meiſten Aehnlichkeit hat auch in dieſer Beziehung mit dem Recht
die Sprache. Die Verſchiedenheit des Nationalcharakters bewirkt auch hier
eine große Abſtufung der Bildſamkeit, wofür beiſpielsweiſe auf „die größere
Tenacität des Dorismus am Alten und die verſatilere Volubilität der Mund-
arten Joniſchen Stammes“ verwieſen werden mag.
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ja die Productivität an guten Vorſätzen ein Zeichen von Charakterſchwäche.
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[63/0081] Langſamkeit der Entwicklung des Rechts. §. 5. allmähligen und unmerklichen Niederſchlag der Atome ſich an- ſetzen und ablagern, ſo daß die Bildung einer neuen Formation viele Jahrhunderte erfordern kann. 30) Der Grund dieſer unge- wöhnlichen Schwerfälligkeit des Rechts iſt leicht zu finden; es iſt derſelbe, aus dem die Entwicklung des Charakters langſamer, mühſamer von Statten geht, als die intellektuelle Ausbildung. Der Charakter eines Individuums und ein Recht — letzteres iſt ja der Charakter eines Volksindividuums — die ſich beſtändig ändern, die nach Art der intellektuellen Thätigkeit in beſtändiger Bewegung und Spannung begriffen ſind, taugen beide nicht viel. Eine gewiſſe Stetigkeit und Hartnäckigkeit iſt bei beiden das Zeichen der Geſundheit und Kraft. Wenn jede Generation das von der Vergangenheit ererbte Recht als „eine ewige Krankheit“ von ſich ſtoßen und dafür das Recht, „das mit uns geboren“, an die Stelle ſetzen wollte, ſo würde die ſittliche Kraft des Rechts über die Gemüther raſch abnehmen, und das Recht im ewigen Rollen begriffen dem Abgrunde entgegeneilen. Je leichter, raſcher und häufiger in einem Staat das Recht producirt, deſto geringer jene moraliſche Kraft; 31) je ſeltner dieſe Productionen, je länger der Zwiſchenraum zwiſchen der Empfängniß und der Geburt, je ſchmerzhafter die Geburtswehen, deſto feſter und kräftiger das Product. Darum kann das Recht nur bei einem willenskräftigen Volk gedeihen, denn nur bei einem ſolchen Volk iſt die conſer- vative wie progreſſive Kraft in dem Maße ausgebildet, daß das Recht nur unter Schmerzen gebären kann. Als Beiſpiel nenne ich das ältere Rom und England; für das gegenüberſtehende 30) Am meiſten Aehnlichkeit hat auch in dieſer Beziehung mit dem Recht die Sprache. Die Verſchiedenheit des Nationalcharakters bewirkt auch hier eine große Abſtufung der Bildſamkeit, wofür beiſpielsweiſe auf „die größere Tenacität des Dorismus am Alten und die verſatilere Volubilität der Mund- arten Joniſchen Stammes“ verwieſen werden mag. 31) Perditissima republica plurimae leges. Auch bei Individuen iſt ja die Productivität an guten Vorſätzen ein Zeichen von Charakterſchwäche.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 63. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/81>, abgerufen am 26.11.2024.