Diese Rücksicht nun auf die Leichtigkeit der Anwendung übt auf die logische Entwicklung des Rechts einen bestimmenden Einfluß aus, zwingt die Rechtsbegriffe häufig, von ihrer ur- sprünglichen Reinheit nachzulassen, um eine Gestalt anzunehmen, in der sie praktisch leichter gehandhabt werden können. Was sie an abstractem Gehalt einbüßen, gewinnen sie wieder an concre- ter Anwendbarkeit. Wir wollen dies an dem Beispiel der pri- vatrechtlichen und politischen Handlungsfähigkeit (Volljährig- keit und Wahlrecht) deutlich machen. Angenommen ein Gesetz- geber wollte dieselbe rechtlich bestimmen und ginge von der Idee aus: volljährig soll derjenige sein, welcher die nöthige Einsicht und Charakterfestigkeit besitzt, um seinen Angelegenheiten selb- ständig vorzustehen, wahlfähig und wählbar derjenige, der die Fähigkeit und den Willen hat, das Beste des Staats zu beför- dern. So richtig nun diese Idee ist, so verkehrt würde es sein, sie selbst als Gesetz aufzustellen, also Volljährigkeit und Wahl- fähigkeit von diesen Voraussetzungen abhängig zu machen. Welche Zeit und Mühe würde verloren gehen, um die Existenz dieser Voraussetzungen im concreten Fall zu ermitteln, welche unerschöpfliche Quelle von Streitigkeiten würde der Gesetzgeber damit geöffnet, wie damit die subjektive Willkühr des Richters möglich gemacht, und selbst bei untadelhafter Anwendung seines Gesetzes die Klagen über Parteilichkeit provocirt haben! Wie kann er dies alles vermeiden? Er stellt statt jener Voraussetzungen andere auf, die mit denselbem in einem gewissen regelmäßigen, wenn auch nicht nothwendigen Nexus stehen und den Vorzug einer leichteren und sicherern concreten Erkennbarkeit voraus haben, also z. B. das zurückgelegte 25ste Jahr bei der Volljäh- rigkeit, den Besitz eines gewissen Vermögens, die Ausübung gewisser Berufsarten oder die Einnahme einer gewissen Stel- lung u. s. w. bei der Wahlfähigkeit. Dieses Ablassen von der ursprünglichen legislativen Idee, diese Vertauschung der in abstracter Beziehung offenbar richtigeren Voraussetzung mit einer weniger richtigen und zutreffenden, aber praktisch leich-
Formale Realiſirbarkeit §. 4.
Dieſe Rückſicht nun auf die Leichtigkeit der Anwendung übt auf die logiſche Entwicklung des Rechts einen beſtimmenden Einfluß aus, zwingt die Rechtsbegriffe häufig, von ihrer ur- ſprünglichen Reinheit nachzulaſſen, um eine Geſtalt anzunehmen, in der ſie praktiſch leichter gehandhabt werden können. Was ſie an abſtractem Gehalt einbüßen, gewinnen ſie wieder an concre- ter Anwendbarkeit. Wir wollen dies an dem Beiſpiel der pri- vatrechtlichen und politiſchen Handlungsfähigkeit (Volljährig- keit und Wahlrecht) deutlich machen. Angenommen ein Geſetz- geber wollte dieſelbe rechtlich beſtimmen und ginge von der Idee aus: volljährig ſoll derjenige ſein, welcher die nöthige Einſicht und Charakterfeſtigkeit beſitzt, um ſeinen Angelegenheiten ſelb- ſtändig vorzuſtehen, wahlfähig und wählbar derjenige, der die Fähigkeit und den Willen hat, das Beſte des Staats zu beför- dern. So richtig nun dieſe Idee iſt, ſo verkehrt würde es ſein, ſie ſelbſt als Geſetz aufzuſtellen, alſo Volljährigkeit und Wahl- fähigkeit von dieſen Vorausſetzungen abhängig zu machen. Welche Zeit und Mühe würde verloren gehen, um die Exiſtenz dieſer Vorausſetzungen im concreten Fall zu ermitteln, welche unerſchöpfliche Quelle von Streitigkeiten würde der Geſetzgeber damit geöffnet, wie damit die ſubjektive Willkühr des Richters möglich gemacht, und ſelbſt bei untadelhafter Anwendung ſeines Geſetzes die Klagen über Parteilichkeit provocirt haben! Wie kann er dies alles vermeiden? Er ſtellt ſtatt jener Vorausſetzungen andere auf, die mit denſelbem in einem gewiſſen regelmäßigen, wenn auch nicht nothwendigen Nexus ſtehen und den Vorzug einer leichteren und ſicherern concreten Erkennbarkeit voraus haben, alſo z. B. das zurückgelegte 25ſte Jahr bei der Volljäh- rigkeit, den Beſitz eines gewiſſen Vermögens, die Ausübung gewiſſer Berufsarten oder die Einnahme einer gewiſſen Stel- lung u. ſ. w. bei der Wahlfähigkeit. Dieſes Ablaſſen von der urſprünglichen legislativen Idee, dieſe Vertauſchung der in abſtracter Beziehung offenbar richtigeren Vorausſetzung mit einer weniger richtigen und zutreffenden, aber praktiſch leich-
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Formale Realiſirbarkeit §. 4.
Dieſe Rückſicht nun auf die Leichtigkeit der Anwendung
übt auf die logiſche Entwicklung des Rechts einen beſtimmenden
Einfluß aus, zwingt die Rechtsbegriffe häufig, von ihrer ur-
ſprünglichen Reinheit nachzulaſſen, um eine Geſtalt anzunehmen,
in der ſie praktiſch leichter gehandhabt werden können. Was ſie
an abſtractem Gehalt einbüßen, gewinnen ſie wieder an concre-
ter Anwendbarkeit. Wir wollen dies an dem Beiſpiel der pri-
vatrechtlichen und politiſchen Handlungsfähigkeit (Volljährig-
keit und Wahlrecht) deutlich machen. Angenommen ein Geſetz-
geber wollte dieſelbe rechtlich beſtimmen und ginge von der Idee
aus: volljährig ſoll derjenige ſein, welcher die nöthige Einſicht
und Charakterfeſtigkeit beſitzt, um ſeinen Angelegenheiten ſelb-
ſtändig vorzuſtehen, wahlfähig und wählbar derjenige, der die
Fähigkeit und den Willen hat, das Beſte des Staats zu beför-
dern. So richtig nun dieſe Idee iſt, ſo verkehrt würde es ſein,
ſie ſelbſt als Geſetz aufzuſtellen, alſo Volljährigkeit und Wahl-
fähigkeit von dieſen Vorausſetzungen abhängig zu machen.
Welche Zeit und Mühe würde verloren gehen, um die Exiſtenz
dieſer Vorausſetzungen im concreten Fall zu ermitteln, welche
unerſchöpfliche Quelle von Streitigkeiten würde der Geſetzgeber
damit geöffnet, wie damit die ſubjektive Willkühr des Richters
möglich gemacht, und ſelbſt bei untadelhafter Anwendung ſeines
Geſetzes die Klagen über Parteilichkeit provocirt haben! Wie kann
er dies alles vermeiden? Er ſtellt ſtatt jener Vorausſetzungen
andere auf, die mit denſelbem in einem gewiſſen regelmäßigen,
wenn auch nicht nothwendigen Nexus ſtehen und den Vorzug
einer leichteren und ſicherern concreten Erkennbarkeit voraus
haben, alſo z. B. das zurückgelegte 25ſte Jahr bei der Volljäh-
rigkeit, den Beſitz eines gewiſſen Vermögens, die Ausübung
gewiſſer Berufsarten oder die Einnahme einer gewiſſen Stel-
lung u. ſ. w. bei der Wahlfähigkeit. Dieſes Ablaſſen von
der urſprünglichen legislativen Idee, dieſe Vertauſchung der
in abſtracter Beziehung offenbar richtigeren Vorausſetzung mit
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/63>, abgerufen am 26.11.2024.
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