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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Physiologische Betrachtung des Rechts. §. 4.
sind vorüber und werden trotz aller Bemühungen nicht wieder
kehren. Um sie zurückzuwünschen, muß man vergessen, daß jede
Zeit Original und nicht Copie einer andern sein soll, daß jede
Zeit einen und denselben historischen Gegenstand unter dem ihr
eigenthümlichen Gesichtspunkt betrachten darf und muß, und
daß auf diese Weise mit jedem neuen Geschlecht neue Seiten des
Gegenstandes sich enthüllen. Dieser Richtung gegenüber that es
Noth, unsere Ansicht näher zu begründen und der Bearbeitung
des römischen Rechts, sowohl der dogmatischen als rechtshisto-
rischen, ein höheres Ziel zu stecken, als das der bloßen Repro-
duction des römischen Bewußtseins. So lange man bloß dies
Ziel verfolgt, kann man zu einem Urtheil über das römische
Recht, zu einer Einsicht in sein wahres Wesen nicht gelangen.
Wer sich letzteres, wie wir gethan haben, zur Aufgabe gestellt
hat, wird von selbst über jenes beschränkte Ziel hinausgetrieben.

2. Physiologische Betrachtung des Rechtsorganismus --
Die Function desselben im Leben -- Formale Realisirbarkeit des
Rechts -- Die Aufgabe des Historikers gegenüber dem
Recht der Vergangenheit.

IV. Der Zweck der Organe liegt in ihren Functionen; die
Organe sind vorhanden, damit sie bestimmte Verrichtungen aus-
üben. In diesem Zwecke beruht wiederum der Grund ihrer gan-
zen Organisation; letztere ist so beschaffen, wie sie durch jene
Functionen geboten ist. Wie dies vom physischen Organismus
gilt, so auch von dem des Rechts. Auch hier führt also erst
die Kenntniß der Functionen des Rechts zum Verständniß seiner
Organe, die Physiologie zum wahren Verständniß der Anatomie.

Nichts ist mithin verkehrter, als ein Recht gleich einem
philosophischen System bloß von Seiten seines geistigen Gehal-
tes, seiner logischen Gliederung und Einheit zu beurtheilen. Möge
es unter diesem Gesichtspunkt auch als Meisterstück erscheinen,
so ist damit über seinen wahren Werth noch nichts ermittelt,

Phyſiologiſche Betrachtung des Rechts. §. 4.
ſind vorüber und werden trotz aller Bemühungen nicht wieder
kehren. Um ſie zurückzuwünſchen, muß man vergeſſen, daß jede
Zeit Original und nicht Copie einer andern ſein ſoll, daß jede
Zeit einen und denſelben hiſtoriſchen Gegenſtand unter dem ihr
eigenthümlichen Geſichtspunkt betrachten darf und muß, und
daß auf dieſe Weiſe mit jedem neuen Geſchlecht neue Seiten des
Gegenſtandes ſich enthüllen. Dieſer Richtung gegenüber that es
Noth, unſere Anſicht näher zu begründen und der Bearbeitung
des römiſchen Rechts, ſowohl der dogmatiſchen als rechtshiſto-
riſchen, ein höheres Ziel zu ſtecken, als das der bloßen Repro-
duction des römiſchen Bewußtſeins. So lange man bloß dies
Ziel verfolgt, kann man zu einem Urtheil über das römiſche
Recht, zu einer Einſicht in ſein wahres Weſen nicht gelangen.
Wer ſich letzteres, wie wir gethan haben, zur Aufgabe geſtellt
hat, wird von ſelbſt über jenes beſchränkte Ziel hinausgetrieben.

2. Phyſiologiſche Betrachtung des Rechtsorganismus —
Die Function deſſelben im Leben — Formale Realiſirbarkeit des
Rechts — Die Aufgabe des Hiſtorikers gegenüber dem
Recht der Vergangenheit.

IV. Der Zweck der Organe liegt in ihren Functionen; die
Organe ſind vorhanden, damit ſie beſtimmte Verrichtungen aus-
üben. In dieſem Zwecke beruht wiederum der Grund ihrer gan-
zen Organiſation; letztere iſt ſo beſchaffen, wie ſie durch jene
Functionen geboten iſt. Wie dies vom phyſiſchen Organismus
gilt, ſo auch von dem des Rechts. Auch hier führt alſo erſt
die Kenntniß der Functionen des Rechts zum Verſtändniß ſeiner
Organe, die Phyſiologie zum wahren Verſtändniß der Anatomie.

Nichts iſt mithin verkehrter, als ein Recht gleich einem
philoſophiſchen Syſtem bloß von Seiten ſeines geiſtigen Gehal-
tes, ſeiner logiſchen Gliederung und Einheit zu beurtheilen. Möge
es unter dieſem Geſichtspunkt auch als Meiſterſtück erſcheinen,
ſo iſt damit über ſeinen wahren Werth noch nichts ermittelt,

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[39/0057] Phyſiologiſche Betrachtung des Rechts. §. 4. ſind vorüber und werden trotz aller Bemühungen nicht wieder kehren. Um ſie zurückzuwünſchen, muß man vergeſſen, daß jede Zeit Original und nicht Copie einer andern ſein ſoll, daß jede Zeit einen und denſelben hiſtoriſchen Gegenſtand unter dem ihr eigenthümlichen Geſichtspunkt betrachten darf und muß, und daß auf dieſe Weiſe mit jedem neuen Geſchlecht neue Seiten des Gegenſtandes ſich enthüllen. Dieſer Richtung gegenüber that es Noth, unſere Anſicht näher zu begründen und der Bearbeitung des römiſchen Rechts, ſowohl der dogmatiſchen als rechtshiſto- riſchen, ein höheres Ziel zu ſtecken, als das der bloßen Repro- duction des römiſchen Bewußtſeins. So lange man bloß dies Ziel verfolgt, kann man zu einem Urtheil über das römiſche Recht, zu einer Einſicht in ſein wahres Weſen nicht gelangen. Wer ſich letzteres, wie wir gethan haben, zur Aufgabe geſtellt hat, wird von ſelbſt über jenes beſchränkte Ziel hinausgetrieben. 2. Phyſiologiſche Betrachtung des Rechtsorganismus — Die Function deſſelben im Leben — Formale Realiſirbarkeit des Rechts — Die Aufgabe des Hiſtorikers gegenüber dem Recht der Vergangenheit. IV. Der Zweck der Organe liegt in ihren Functionen; die Organe ſind vorhanden, damit ſie beſtimmte Verrichtungen aus- üben. In dieſem Zwecke beruht wiederum der Grund ihrer gan- zen Organiſation; letztere iſt ſo beſchaffen, wie ſie durch jene Functionen geboten iſt. Wie dies vom phyſiſchen Organismus gilt, ſo auch von dem des Rechts. Auch hier führt alſo erſt die Kenntniß der Functionen des Rechts zum Verſtändniß ſeiner Organe, die Phyſiologie zum wahren Verſtändniß der Anatomie. Nichts iſt mithin verkehrter, als ein Recht gleich einem philoſophiſchen Syſtem bloß von Seiten ſeines geiſtigen Gehal- tes, ſeiner logiſchen Gliederung und Einheit zu beurtheilen. Möge es unter dieſem Geſichtspunkt auch als Meiſterſtück erſcheinen, ſo iſt damit über ſeinen wahren Werth noch nichts ermittelt,

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/57>, abgerufen am 25.11.2024.