Ursache wirksam. Je üppiger die Lebenskraft, um so mannigfal- tiger die Form ihrer Aeußerung, je matter, um so ärmer. So können denn auch im Recht dieselben Kräfte in dem einen Insti- tut eine Beschränkung, in dem andern eine Erweiterung, dort eine Abschwächung, hier eine Kräftigung bewirken.
In diesen treibenden Kräften nun bewährt sich erst recht die Einheit und Individualität des Organismus, und wären sie nicht vorhanden, so würde das Recht nur ein Aggregat von einzelnen Instituten sein, und man könnte auf die Idee kommen, ein Recht in der Weise zusammenzusetzen, daß man von jedem Volke das Rechtsinstitut entlehnte, das gerade bei ihm vor- zugsweise ausgebildet und zur Reife gelangt wäre. Indem wir aber das Recht einen Organismus nennen, indem wir von dem Charakter eines Rechtes sprechen, gehen wir schon von der An- nahme solcher das ganze Recht gleichmäßig gestaltenden und beherrschenden Kräfte aus. Der Sitz dieser Kräfte ist die Indivi- dualität des Volks, sie ist gewissermaßen das Herz des Rechts- organismus, von dem aus belebend und erwärmend das Blut durch alle Theile strömt und dadurch auf dem allgemeinen logi- schen Knochensystem des Rechts Fleisch und Haut ansetzt, ihm den individuellen Charakter verleiht, an dem man eben erkennt, daß das Recht diesem Volke und dieser Zeit angehört. In jeder Ader fühlen wir bald schwächer, bald stärker den Pulsschlag allgemeiner nationaler Ideen und Anschauungen, langsam und kaum merklich führen sie den festen Theilen den Nahrungsstoff zu und bewirken, indem sie selbst dem Wechsel der Zeit ausge- setzt sind, auch eine entsprechende Veränderung im ganzen Orga- nismus. So ist denn der Geist des Volks und der Geist der Zeit auch der Geist des Rechts.
Wir wollen diese allgemeinen Ideen und Grundanschauun- gen eines Volks, die den einzelnen Instituten ihren Ausdruck geben, die Bestrebungen und Tendenzen der Zeit, die im Recht sich verwirklichen, kurz den ganzen Inbegriff aller Triebkräfte, die im Rechte thätig werden, die psychische Organisation dessel-
Einleitung — die Methode.
Urſache wirkſam. Je üppiger die Lebenskraft, um ſo mannigfal- tiger die Form ihrer Aeußerung, je matter, um ſo ärmer. So können denn auch im Recht dieſelben Kräfte in dem einen Inſti- tut eine Beſchränkung, in dem andern eine Erweiterung, dort eine Abſchwächung, hier eine Kräftigung bewirken.
In dieſen treibenden Kräften nun bewährt ſich erſt recht die Einheit und Individualität des Organismus, und wären ſie nicht vorhanden, ſo würde das Recht nur ein Aggregat von einzelnen Inſtituten ſein, und man könnte auf die Idee kommen, ein Recht in der Weiſe zuſammenzuſetzen, daß man von jedem Volke das Rechtsinſtitut entlehnte, das gerade bei ihm vor- zugsweiſe ausgebildet und zur Reife gelangt wäre. Indem wir aber das Recht einen Organismus nennen, indem wir von dem Charakter eines Rechtes ſprechen, gehen wir ſchon von der An- nahme ſolcher das ganze Recht gleichmäßig geſtaltenden und beherrſchenden Kräfte aus. Der Sitz dieſer Kräfte iſt die Indivi- dualität des Volks, ſie iſt gewiſſermaßen das Herz des Rechts- organismus, von dem aus belebend und erwärmend das Blut durch alle Theile ſtrömt und dadurch auf dem allgemeinen logi- ſchen Knochenſyſtem des Rechts Fleiſch und Haut anſetzt, ihm den individuellen Charakter verleiht, an dem man eben erkennt, daß das Recht dieſem Volke und dieſer Zeit angehört. In jeder Ader fühlen wir bald ſchwächer, bald ſtärker den Pulsſchlag allgemeiner nationaler Ideen und Anſchauungen, langſam und kaum merklich führen ſie den feſten Theilen den Nahrungsſtoff zu und bewirken, indem ſie ſelbſt dem Wechſel der Zeit ausge- ſetzt ſind, auch eine entſprechende Veränderung im ganzen Orga- nismus. So iſt denn der Geiſt des Volks und der Geiſt der Zeit auch der Geiſt des Rechts.
Wir wollen dieſe allgemeinen Ideen und Grundanſchauun- gen eines Volks, die den einzelnen Inſtituten ihren Ausdruck geben, die Beſtrebungen und Tendenzen der Zeit, die im Recht ſich verwirklichen, kurz den ganzen Inbegriff aller Triebkräfte, die im Rechte thätig werden, die pſychiſche Organiſation deſſel-
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Einleitung — die Methode.
Urſache wirkſam. Je üppiger die Lebenskraft, um ſo mannigfal-
tiger die Form ihrer Aeußerung, je matter, um ſo ärmer. So
können denn auch im Recht dieſelben Kräfte in dem einen Inſti-
tut eine Beſchränkung, in dem andern eine Erweiterung, dort
eine Abſchwächung, hier eine Kräftigung bewirken.
In dieſen treibenden Kräften nun bewährt ſich erſt recht
die Einheit und Individualität des Organismus, und wären
ſie nicht vorhanden, ſo würde das Recht nur ein Aggregat von
einzelnen Inſtituten ſein, und man könnte auf die Idee kommen,
ein Recht in der Weiſe zuſammenzuſetzen, daß man von jedem
Volke das Rechtsinſtitut entlehnte, das gerade bei ihm vor-
zugsweiſe ausgebildet und zur Reife gelangt wäre. Indem wir
aber das Recht einen Organismus nennen, indem wir von dem
Charakter eines Rechtes ſprechen, gehen wir ſchon von der An-
nahme ſolcher das ganze Recht gleichmäßig geſtaltenden und
beherrſchenden Kräfte aus. Der Sitz dieſer Kräfte iſt die Indivi-
dualität des Volks, ſie iſt gewiſſermaßen das Herz des Rechts-
organismus, von dem aus belebend und erwärmend das Blut
durch alle Theile ſtrömt und dadurch auf dem allgemeinen logi-
ſchen Knochenſyſtem des Rechts Fleiſch und Haut anſetzt, ihm
den individuellen Charakter verleiht, an dem man eben erkennt,
daß das Recht dieſem Volke und dieſer Zeit angehört. In jeder
Ader fühlen wir bald ſchwächer, bald ſtärker den Pulsſchlag
allgemeiner nationaler Ideen und Anſchauungen, langſam und
kaum merklich führen ſie den feſten Theilen den Nahrungsſtoff
zu und bewirken, indem ſie ſelbſt dem Wechſel der Zeit ausge-
ſetzt ſind, auch eine entſprechende Veränderung im ganzen Orga-
nismus. So iſt denn der Geiſt des Volks und der Geiſt der
Zeit auch der Geiſt des Rechts.
Wir wollen dieſe allgemeinen Ideen und Grundanſchauun-
gen eines Volks, die den einzelnen Inſtituten ihren Ausdruck
geben, die Beſtrebungen und Tendenzen der Zeit, die im Recht
ſich verwirklichen, kurz den ganzen Inbegriff aller Triebkräfte, die
im Rechte thätig werden, die pſychiſche Organiſation deſſel-
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/52>, abgerufen am 26.07.2024.
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