Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21. sen. Diese Versündigung des Verstandes an einem Gegenstande,dem er ewig fern bleiben sollte, dieser bewußte oder unbewußte Jesuitismus, der die gleichgültigen Formen beobachtet, weil sie ihm nicht hinderlich sind, und die wirklichen Hindernisse, die die Religion ihm entgegensetzt, mit elender Sophistik aus dem Wege räumt, dies Gemisch von Aberglauben und einer an religiösen Dingen sich bethätigenden Schlauheit und juristischen Kunst -- es ist die abstoßende Schattenseite des römischen Cha- rakters, aber höchst geeignet, um das wahre Wesen desselben daran zu erkennen. Prüfen wir denn einmal die religiösen Grundsätze und For- 248) Hartung a. a. O. I. S. 186 sagt z. B.: ... "so muß man den ältern Römern nachrühmen, daß sie eine so allgemeine, so durchreichende und so unerschütterliche Religiösität besessen und geübt haben, wie kaum ein an- deres Volk der Erde." 249) Schon von Tarquinius dem Jüngern erzählt Livius I c. 55: ex-
augurare fana sacellaque statuit ... omnium sacellorum exaugurationes admittebant aves. 2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21. ſen. Dieſe Verſündigung des Verſtandes an einem Gegenſtande,dem er ewig fern bleiben ſollte, dieſer bewußte oder unbewußte Jeſuitismus, der die gleichgültigen Formen beobachtet, weil ſie ihm nicht hinderlich ſind, und die wirklichen Hinderniſſe, die die Religion ihm entgegenſetzt, mit elender Sophiſtik aus dem Wege räumt, dies Gemiſch von Aberglauben und einer an religiöſen Dingen ſich bethätigenden Schlauheit und juriſtiſchen Kunſt — es iſt die abſtoßende Schattenſeite des römiſchen Cha- rakters, aber höchſt geeignet, um das wahre Weſen deſſelben daran zu erkennen. Prüfen wir denn einmal die religiöſen Grundſätze und For- 248) Hartung a. a. O. I. S. 186 ſagt z. B.: … „ſo muß man den ältern Römern nachrühmen, daß ſie eine ſo allgemeine, ſo durchreichende und ſo unerſchütterliche Religiöſität beſeſſen und geübt haben, wie kaum ein an- deres Volk der Erde.“ 249) Schon von Tarquinius dem Jüngern erzählt Livius I c. 55: ex-
augurare fana sacellaque statuit … omnium sacellorum exaugurationes admittebant aves. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0343" n="325"/><fw place="top" type="header">2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.</fw><lb/> ſen. Dieſe Verſündigung des Verſtandes an einem Gegenſtande,<lb/> dem er ewig fern bleiben ſollte, dieſer bewußte oder unbewußte<lb/> Jeſuitismus, der die gleichgültigen Formen beobachtet, weil<lb/> ſie ihm nicht hinderlich ſind, und die wirklichen Hinderniſſe,<lb/> die die Religion ihm entgegenſetzt, mit elender Sophiſtik aus<lb/> dem Wege räumt, dies Gemiſch von Aberglauben und einer an<lb/> religiöſen Dingen ſich bethätigenden Schlauheit und juriſtiſchen<lb/> Kunſt — es iſt die abſtoßende Schattenſeite des römiſchen Cha-<lb/> rakters, aber höchſt geeignet, um das wahre Weſen deſſelben<lb/> daran zu erkennen.</p><lb/> <p>Prüfen wir denn einmal die religiöſen Grundſätze und For-<lb/> men, auf deren ſtrenge Beachtung ſich im Grunde das Lob re-<lb/> ducirt, das man der römiſchen Religiöſität in ſo übertriebenem<lb/> Maße geſpendet hat; <note place="foot" n="248)">Hartung a. a. O. <hi rendition="#aq">I.</hi> S. 186 ſagt z. B.: … „ſo muß man den<lb/> ältern Römern nachrühmen, daß ſie eine ſo allgemeine, ſo durchreichende und<lb/> ſo unerſchütterliche Religiöſität beſeſſen und geübt haben, wie kaum ein an-<lb/> deres Volk der Erde.“</note> ſtimmen ſie nicht ganz zu den welt-<lb/> lichen Zwecken der Römer? Ihre politiſchen Inſtitutionen ge-<lb/> nießen den Schutz religiöſer Weihe — aber die Religion iſt füg-<lb/> ſam genug, ſich auf Verlangen allen Aenderungen zu unterzie-<lb/> hen. Die religiöſe Beziehung kann, wie ein äußeres Gewand,<lb/> den Verhältniſſen umgehängt und wieder entzogen werden. Die<lb/> Inauguration läßt ſich bei günſtigen Auſpicien rückgängig ma-<lb/> chen, <note place="foot" n="249)">Schon von Tarquinius dem Jüngern erzählt <hi rendition="#aq">Livius I c. 55: ex-<lb/> augurare fana sacellaque statuit … omnium sacellorum exaugurationes<lb/> admittebant aves.</hi></note> die durch <hi rendition="#aq">confarreatio</hi> in religiöſe Weihe eingegan-<lb/> gene Ehe durch <hi rendition="#aq">diffarreatio</hi> löſen, die Heiligkeit des Orts wie-<lb/> der aufheben, ſelbſt die Götter können zum Umzug aus dieſem<lb/> Tempel in einen andern gezwungen werden. Umgekehrt iſt dieſe<lb/> Weihe nicht durch die religiöſe Beziehung des Gegenſtandes<lb/> bedingt, ſie läßt ſich jeder Inſtitution ertheilen. Die Sacertät<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [325/0343]
2. Verhältniß zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
ſen. Dieſe Verſündigung des Verſtandes an einem Gegenſtande,
dem er ewig fern bleiben ſollte, dieſer bewußte oder unbewußte
Jeſuitismus, der die gleichgültigen Formen beobachtet, weil
ſie ihm nicht hinderlich ſind, und die wirklichen Hinderniſſe,
die die Religion ihm entgegenſetzt, mit elender Sophiſtik aus
dem Wege räumt, dies Gemiſch von Aberglauben und einer an
religiöſen Dingen ſich bethätigenden Schlauheit und juriſtiſchen
Kunſt — es iſt die abſtoßende Schattenſeite des römiſchen Cha-
rakters, aber höchſt geeignet, um das wahre Weſen deſſelben
daran zu erkennen.
Prüfen wir denn einmal die religiöſen Grundſätze und For-
men, auf deren ſtrenge Beachtung ſich im Grunde das Lob re-
ducirt, das man der römiſchen Religiöſität in ſo übertriebenem
Maße geſpendet hat; 248) ſtimmen ſie nicht ganz zu den welt-
lichen Zwecken der Römer? Ihre politiſchen Inſtitutionen ge-
nießen den Schutz religiöſer Weihe — aber die Religion iſt füg-
ſam genug, ſich auf Verlangen allen Aenderungen zu unterzie-
hen. Die religiöſe Beziehung kann, wie ein äußeres Gewand,
den Verhältniſſen umgehängt und wieder entzogen werden. Die
Inauguration läßt ſich bei günſtigen Auſpicien rückgängig ma-
chen, 249) die durch confarreatio in religiöſe Weihe eingegan-
gene Ehe durch diffarreatio löſen, die Heiligkeit des Orts wie-
der aufheben, ſelbſt die Götter können zum Umzug aus dieſem
Tempel in einen andern gezwungen werden. Umgekehrt iſt dieſe
Weihe nicht durch die religiöſe Beziehung des Gegenſtandes
bedingt, ſie läßt ſich jeder Inſtitution ertheilen. Die Sacertät
248) Hartung a. a. O. I. S. 186 ſagt z. B.: … „ſo muß man den
ältern Römern nachrühmen, daß ſie eine ſo allgemeine, ſo durchreichende und
ſo unerſchütterliche Religiöſität beſeſſen und geübt haben, wie kaum ein an-
deres Volk der Erde.“
249) Schon von Tarquinius dem Jüngern erzählt Livius I c. 55: ex-
augurare fana sacellaque statuit … omnium sacellorum exaugurationes
admittebant aves.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |