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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Uebergang zum spezifisch römischen Recht.
und es verblieb ihr innerhalb der Verfassung noch ein beträcht-
licher Raum, auf dem sie einen unbestrittenen Einfluß ausüben
konnte. Aber die Macht, die ihr hier gelassen, gehörte in der
That nicht ihr selbst, sondern dem Staat. Die Römer hatten
bei jenen Partheikämpfen gelernt, die Religion dem politischen
Interesse unterzuordnen; ihre ferneren Leistungen machten die-
ser Schule Ehre. Darin beruhte ja, wie wir früher gezeigt, das
römische Wesen, daß alles, was auf dem Boden der römischen
Welt wuchs und bestand, den Zwecken derselben dienstbar wer-
den mußte. Die Religion, durch die oft wiederholten Schläge
ihrer wahren lebendigen Kraft beraubt, fügte sich leicht, und
diese Fügsamkeit, die den Anlaß zu einem Conflikt mit dem po-
litischen Interesse zu vermeiden verstand, gewährte ihr den
Schein der Macht und Unabhängigkeit. Der römische Staat ent-
sprach in allen Dingen ihren Satzungen und Geboten, schien
sich ganz ihrer Autorität zu unterwerfen, aber er konnte es son-
der Gefahr thun, denn ihre Gebote waren so eingerichtet, wie
sie ihm am besten paßten, und ihre Autorität bekräftigte nur
das, was er selbst wollte, so daß er im Endresultat die Mit-
wirkung dieser Bundesgenossin gewann, ohne seinerseits we-
sentliche Opfer dafür gebracht zu haben. 241)

241) Man könnte mir den Einwurf machen: was nützte die Mitwirkung
der Religion, da sie dem bisherigen nach ihrer wahren lebendigen Kraft be-
raubt war. Es ließe sich darauf erwidern, zunächst daß das von mir ange-
nommene Verhältniß zwischen der Religion und Politik für die höhern Kreise
der Bevölkerung, in denen es ja im Grunde allein praktisch wurde, Statt
gefunden haben kann, ohne daß dasselbe für die große Masse gegolten hätte.
Für Ciceros Zeit trifft dies bekanntlich zu; Unglauben oben, Aberglauben
unten! Wir haben aber nicht nöthig für die ältere Zeit zu dieser immer sehr
mißlichen Annahme zu greifen, vielmehr, glaube ich, kann die menschliche
Natur uns den scheinbaren Widerspruch lösen. Wenn man glaubt, was man
wünscht, wenn also der Wille dem Glauben die Richtung vorschreibt, so sollte
ein solcher Glaube gar keine Macht über uns haben, und doch wie groß kann
diese Macht sein. Dieser Selbstbetrug liegt einmal tief in der menschlichen
Natur, und in welchem Maßstabe und mit welchem Erfolge ein ganzes Volk
desselben fähig ist, das lehrt uns vielleicht keins so sehr, wie das römische.

Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
und es verblieb ihr innerhalb der Verfaſſung noch ein beträcht-
licher Raum, auf dem ſie einen unbeſtrittenen Einfluß ausüben
konnte. Aber die Macht, die ihr hier gelaſſen, gehörte in der
That nicht ihr ſelbſt, ſondern dem Staat. Die Römer hatten
bei jenen Partheikämpfen gelernt, die Religion dem politiſchen
Intereſſe unterzuordnen; ihre ferneren Leiſtungen machten die-
ſer Schule Ehre. Darin beruhte ja, wie wir früher gezeigt, das
römiſche Weſen, daß alles, was auf dem Boden der römiſchen
Welt wuchs und beſtand, den Zwecken derſelben dienſtbar wer-
den mußte. Die Religion, durch die oft wiederholten Schläge
ihrer wahren lebendigen Kraft beraubt, fügte ſich leicht, und
dieſe Fügſamkeit, die den Anlaß zu einem Conflikt mit dem po-
litiſchen Intereſſe zu vermeiden verſtand, gewährte ihr den
Schein der Macht und Unabhängigkeit. Der römiſche Staat ent-
ſprach in allen Dingen ihren Satzungen und Geboten, ſchien
ſich ganz ihrer Autorität zu unterwerfen, aber er konnte es ſon-
der Gefahr thun, denn ihre Gebote waren ſo eingerichtet, wie
ſie ihm am beſten paßten, und ihre Autorität bekräftigte nur
das, was er ſelbſt wollte, ſo daß er im Endreſultat die Mit-
wirkung dieſer Bundesgenoſſin gewann, ohne ſeinerſeits we-
ſentliche Opfer dafür gebracht zu haben. 241)

241) Man könnte mir den Einwurf machen: was nützte die Mitwirkung
der Religion, da ſie dem bisherigen nach ihrer wahren lebendigen Kraft be-
raubt war. Es ließe ſich darauf erwidern, zunächſt daß das von mir ange-
nommene Verhältniß zwiſchen der Religion und Politik für die höhern Kreiſe
der Bevölkerung, in denen es ja im Grunde allein praktiſch wurde, Statt
gefunden haben kann, ohne daß daſſelbe für die große Maſſe gegolten hätte.
Für Ciceros Zeit trifft dies bekanntlich zu; Unglauben oben, Aberglauben
unten! Wir haben aber nicht nöthig für die ältere Zeit zu dieſer immer ſehr
mißlichen Annahme zu greifen, vielmehr, glaube ich, kann die menſchliche
Natur uns den ſcheinbaren Widerſpruch löſen. Wenn man glaubt, was man
wünſcht, wenn alſo der Wille dem Glauben die Richtung vorſchreibt, ſo ſollte
ein ſolcher Glaube gar keine Macht über uns haben, und doch wie groß kann
dieſe Macht ſein. Dieſer Selbſtbetrug liegt einmal tief in der menſchlichen
Natur, und in welchem Maßſtabe und mit welchem Erfolge ein ganzes Volk
deſſelben fähig iſt, das lehrt uns vielleicht keins ſo ſehr, wie das römiſche.
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[320/0338] Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht. und es verblieb ihr innerhalb der Verfaſſung noch ein beträcht- licher Raum, auf dem ſie einen unbeſtrittenen Einfluß ausüben konnte. Aber die Macht, die ihr hier gelaſſen, gehörte in der That nicht ihr ſelbſt, ſondern dem Staat. Die Römer hatten bei jenen Partheikämpfen gelernt, die Religion dem politiſchen Intereſſe unterzuordnen; ihre ferneren Leiſtungen machten die- ſer Schule Ehre. Darin beruhte ja, wie wir früher gezeigt, das römiſche Weſen, daß alles, was auf dem Boden der römiſchen Welt wuchs und beſtand, den Zwecken derſelben dienſtbar wer- den mußte. Die Religion, durch die oft wiederholten Schläge ihrer wahren lebendigen Kraft beraubt, fügte ſich leicht, und dieſe Fügſamkeit, die den Anlaß zu einem Conflikt mit dem po- litiſchen Intereſſe zu vermeiden verſtand, gewährte ihr den Schein der Macht und Unabhängigkeit. Der römiſche Staat ent- ſprach in allen Dingen ihren Satzungen und Geboten, ſchien ſich ganz ihrer Autorität zu unterwerfen, aber er konnte es ſon- der Gefahr thun, denn ihre Gebote waren ſo eingerichtet, wie ſie ihm am beſten paßten, und ihre Autorität bekräftigte nur das, was er ſelbſt wollte, ſo daß er im Endreſultat die Mit- wirkung dieſer Bundesgenoſſin gewann, ohne ſeinerſeits we- ſentliche Opfer dafür gebracht zu haben. 241) 241) Man könnte mir den Einwurf machen: was nützte die Mitwirkung der Religion, da ſie dem bisherigen nach ihrer wahren lebendigen Kraft be- raubt war. Es ließe ſich darauf erwidern, zunächſt daß das von mir ange- nommene Verhältniß zwiſchen der Religion und Politik für die höhern Kreiſe der Bevölkerung, in denen es ja im Grunde allein praktiſch wurde, Statt gefunden haben kann, ohne daß daſſelbe für die große Maſſe gegolten hätte. Für Ciceros Zeit trifft dies bekanntlich zu; Unglauben oben, Aberglauben unten! Wir haben aber nicht nöthig für die ältere Zeit zu dieſer immer ſehr mißlichen Annahme zu greifen, vielmehr, glaube ich, kann die menſchliche Natur uns den ſcheinbaren Widerſpruch löſen. Wenn man glaubt, was man wünſcht, wenn alſo der Wille dem Glauben die Richtung vorſchreibt, ſo ſollte ein ſolcher Glaube gar keine Macht über uns haben, und doch wie groß kann dieſe Macht ſein. Dieſer Selbſtbetrug liegt einmal tief in der menſchlichen Natur, und in welchem Maßſtabe und mit welchem Erfolge ein ganzes Volk deſſelben fähig iſt, das lehrt uns vielleicht keins ſo ſehr, wie das römiſche.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/338>, abgerufen am 22.11.2024.