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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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2. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
achtet. 236) Einen sehr charakteristischen Gegensatz zu ihnen bil-
det die sittenrichterliche Gewalt des Censors; die von der Reli-
gion versäumte Moral flüchtet sich zum Staat, und er über-
nimmt das Amt des moralischen Lehr- und Zuchtmeisters.

Wenden wir uns jetzt einer andern Seite der Religion zu,
die ihre praktischen Beziehungen zum Staat umfaßt. Wir sahen
bei Gelegenheit des religiösen Prinzips (§. 18), daß die Staats-
verfassung durch und durch mit religiösen Elementen versetzt
war, und daß auch das Privat- und Strafrecht mannigfaltige
Einwirkungen jenes Prinzips aufzuweisen hatten. Die An-
schauung, aus der diese Einwirkungen hervorgegangen waren,
war eine tief religiöse gewesen; letztere verweisen uns auf das
innige Verhältniß, in dem das Volk sich die Götter zu sich und
seinem ganzen Sein dachte, auf den Antheil, den die Götter
jener Ansicht zufolge an dem Staat und dem menschlichen Trei-
ben nehmen, auf das innere Bedürfniß des Volks, für seine Ein-
richtungen eine höhere Weihe zu suchen und seine Handlungen
ganz dem Willen der Götter anzupassen. Aber wie so oft, über-
dauerte auch hier die äußere Einrichtung lange den Geist, aus
dem sie hervorgegangen; jene blieb, dieser wurde ein anderer.

Schon die römische Königszeit ist nicht mehr von jener
Gesinnung beseelt, aus der die religiösen Einrichtungen hervor-
gegangen sind, 237) der Anfang der Republik und die ersten

236) Siehe z. B. Liv. XXVII, 8. Die flamines Diales hatten das
Recht, im Senat zu erscheinen, wagten aber nicht, es auszuüben ... rem in-
termissam per multos annos ob indignitatem priorum flaminum,
und als
C. Flaccus es zum ersten Mal wieder in Anspruch zu nehmen wagte und seinen
Anspruch durchsetzte, war, wie Livius sagt, nur eine Stimme darüber: magis
sanctitate vitae, quam sacerdotii jure rem eam flaminem obtinuisse.
237) Ich freue mich, für diese Ansicht eine Autorität wie die von Am-
brosch in seinen öfter citirten Studien u. s. w. S. 57. anführen zu können:
"So viel ist gewiß, daß jener Zustand der Ruhe und Einförmigkeit, in wel-
chem allein jenes an tausend Observanzen geknüpfte Priesterthum und Reli-
gionssystem entstehen konnte, schon in der Königszeit Aenderungen erlitt.
Die Sage hat diesen Uebergang von Religion und Frieden zu Irreligiösität

2. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21.
achtet. 236) Einen ſehr charakteriſtiſchen Gegenſatz zu ihnen bil-
det die ſittenrichterliche Gewalt des Cenſors; die von der Reli-
gion verſäumte Moral flüchtet ſich zum Staat, und er über-
nimmt das Amt des moraliſchen Lehr- und Zuchtmeiſters.

Wenden wir uns jetzt einer andern Seite der Religion zu,
die ihre praktiſchen Beziehungen zum Staat umfaßt. Wir ſahen
bei Gelegenheit des religiöſen Prinzips (§. 18), daß die Staats-
verfaſſung durch und durch mit religiöſen Elementen verſetzt
war, und daß auch das Privat- und Strafrecht mannigfaltige
Einwirkungen jenes Prinzips aufzuweiſen hatten. Die An-
ſchauung, aus der dieſe Einwirkungen hervorgegangen waren,
war eine tief religiöſe geweſen; letztere verweiſen uns auf das
innige Verhältniß, in dem das Volk ſich die Götter zu ſich und
ſeinem ganzen Sein dachte, auf den Antheil, den die Götter
jener Anſicht zufolge an dem Staat und dem menſchlichen Trei-
ben nehmen, auf das innere Bedürfniß des Volks, für ſeine Ein-
richtungen eine höhere Weihe zu ſuchen und ſeine Handlungen
ganz dem Willen der Götter anzupaſſen. Aber wie ſo oft, über-
dauerte auch hier die äußere Einrichtung lange den Geiſt, aus
dem ſie hervorgegangen; jene blieb, dieſer wurde ein anderer.

Schon die römiſche Königszeit iſt nicht mehr von jener
Geſinnung beſeelt, aus der die religiöſen Einrichtungen hervor-
gegangen ſind, 237) der Anfang der Republik und die erſten

236) Siehe z. B. Liv. XXVII, 8. Die flamines Diales hatten das
Recht, im Senat zu erſcheinen, wagten aber nicht, es auszuüben … rem in-
termissam per multos annos ob indignitatem priorum flaminum,
und als
C. Flaccus es zum erſten Mal wieder in Anſpruch zu nehmen wagte und ſeinen
Anſpruch durchſetzte, war, wie Livius ſagt, nur eine Stimme darüber: magis
sanctitate vitae, quam sacerdotii jure rem eam flaminem obtinuisse.
237) Ich freue mich, für dieſe Anſicht eine Autorität wie die von Am-
broſch in ſeinen öfter citirten Studien u. ſ. w. S. 57. anführen zu können:
„So viel iſt gewiß, daß jener Zuſtand der Ruhe und Einförmigkeit, in wel-
chem allein jenes an tauſend Obſervanzen geknüpfte Prieſterthum und Reli-
gionsſyſtem entſtehen konnte, ſchon in der Königszeit Aenderungen erlitt.
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[317/0335] 2. Verhalten zu den gegebenen Ausgangspunkten. §. 21. achtet. 236) Einen ſehr charakteriſtiſchen Gegenſatz zu ihnen bil- det die ſittenrichterliche Gewalt des Cenſors; die von der Reli- gion verſäumte Moral flüchtet ſich zum Staat, und er über- nimmt das Amt des moraliſchen Lehr- und Zuchtmeiſters. Wenden wir uns jetzt einer andern Seite der Religion zu, die ihre praktiſchen Beziehungen zum Staat umfaßt. Wir ſahen bei Gelegenheit des religiöſen Prinzips (§. 18), daß die Staats- verfaſſung durch und durch mit religiöſen Elementen verſetzt war, und daß auch das Privat- und Strafrecht mannigfaltige Einwirkungen jenes Prinzips aufzuweiſen hatten. Die An- ſchauung, aus der dieſe Einwirkungen hervorgegangen waren, war eine tief religiöſe geweſen; letztere verweiſen uns auf das innige Verhältniß, in dem das Volk ſich die Götter zu ſich und ſeinem ganzen Sein dachte, auf den Antheil, den die Götter jener Anſicht zufolge an dem Staat und dem menſchlichen Trei- ben nehmen, auf das innere Bedürfniß des Volks, für ſeine Ein- richtungen eine höhere Weihe zu ſuchen und ſeine Handlungen ganz dem Willen der Götter anzupaſſen. Aber wie ſo oft, über- dauerte auch hier die äußere Einrichtung lange den Geiſt, aus dem ſie hervorgegangen; jene blieb, dieſer wurde ein anderer. Schon die römiſche Königszeit iſt nicht mehr von jener Geſinnung beſeelt, aus der die religiöſen Einrichtungen hervor- gegangen ſind, 237) der Anfang der Republik und die erſten 236) Siehe z. B. Liv. XXVII, 8. Die flamines Diales hatten das Recht, im Senat zu erſcheinen, wagten aber nicht, es auszuüben … rem in- termissam per multos annos ob indignitatem priorum flaminum, und als C. Flaccus es zum erſten Mal wieder in Anſpruch zu nehmen wagte und ſeinen Anſpruch durchſetzte, war, wie Livius ſagt, nur eine Stimme darüber: magis sanctitate vitae, quam sacerdotii jure rem eam flaminem obtinuisse. 237) Ich freue mich, für dieſe Anſicht eine Autorität wie die von Am- broſch in ſeinen öfter citirten Studien u. ſ. w. S. 57. anführen zu können: „So viel iſt gewiß, daß jener Zuſtand der Ruhe und Einförmigkeit, in wel- chem allein jenes an tauſend Obſervanzen geknüpfte Prieſterthum und Reli- gionsſyſtem entſtehen konnte, ſchon in der Königszeit Aenderungen erlitt. Die Sage hat dieſen Uebergang von Religion und Frieden zu Irreligiöſität

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/335>, abgerufen am 22.11.2024.