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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Uebergang zum spezifisch römischen Recht.
der Seite der römischen Religion und Kirchenverfassung zu,
die zu Staat und Recht eine praktische Beziehung hatte. Die
ausschließlich religiöse Seite derselben hat für uns nur ein ne-
gatives Interesse, insofern sie uns nämlich zeigt, wie weit sie
hinter der ersten zurückstand. Die Priesterthümer, die dieser
Seite angehörten, 234) waren als politisch einflußlos wenig
gesucht und darum von den Plebejern bei ihren Kämpfen um
die geistlichen Stellen gar nicht begehrt. 235) Bei der Aeußerlich-
keit der ganzen römischen Religiösität läßt sich an einen sittlichen
Einfluß der Priester auf das Volk, wie er anderwärts so oft
vorkommt, gar nicht denken. Bei einem wirklich religiösen
Volke beschränkt die Religion sich nicht auf sich selbst, auf ihre
Dogmen und Formen, sondern sie durchdringt und erfaßt das
ganze sittliche Leben der Nation. Der Beruf der Priester ist
dem entsprechend von derselben Ausdehnung, sie sind moralische
Bildner des Volks und haben als solche den größten Einfluß
auf dasselbe. Ganz anders bei den Römern. Die Priester sind
hier bloß Diener der Götter, und ihre Aufgabe beschränkt sich
auf die Verrichtung oder Ueberwachung des äußern Dienstes,
das religiöse Dogma tritt dem gegenüber in den Hintergrund,
ja kömmt in den letzten Jahrhunderten der Republik fast ganz
in Vergessenheit, so daß jener Dienst vielfach nichts als eine
mechanische Vornahme unverstandner und dadurch bedeutungs-
los gewordner Formen ward und nur durch den conservativen
Trieb der Römer so lange sein kümmerliches Dasein fristete.
Bei einer solchen Beschränkung auf das rein Ceremonielle
konnten diese Priester keinen Einfluß aufs Leben gewinnen,
und was keinen Einfluß hatte, war in Rom auch wenig ge-

234) Die Pontifices, Augurn, Fetialen und Decemvirn haben eine ganz
andere Stellung, und sie sind hier natürlich nicht gemeint, sondern nur die
eigentlichen Geistlichen, die flamines, der rex sacrificulus, die Vestalinnen
u. s. w.
235) Es kam vor, daß ausschweifende junge Leute zur Strafe vom Pont.
max.
zu flamines bestimmt wurden (capti). Liv. XXVII. 8.

Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht.
der Seite der römiſchen Religion und Kirchenverfaſſung zu,
die zu Staat und Recht eine praktiſche Beziehung hatte. Die
ausſchließlich religiöſe Seite derſelben hat für uns nur ein ne-
gatives Intereſſe, inſofern ſie uns nämlich zeigt, wie weit ſie
hinter der erſten zurückſtand. Die Prieſterthümer, die dieſer
Seite angehörten, 234) waren als politiſch einflußlos wenig
geſucht und darum von den Plebejern bei ihren Kämpfen um
die geiſtlichen Stellen gar nicht begehrt. 235) Bei der Aeußerlich-
keit der ganzen römiſchen Religiöſität läßt ſich an einen ſittlichen
Einfluß der Prieſter auf das Volk, wie er anderwärts ſo oft
vorkommt, gar nicht denken. Bei einem wirklich religiöſen
Volke beſchränkt die Religion ſich nicht auf ſich ſelbſt, auf ihre
Dogmen und Formen, ſondern ſie durchdringt und erfaßt das
ganze ſittliche Leben der Nation. Der Beruf der Prieſter iſt
dem entſprechend von derſelben Ausdehnung, ſie ſind moraliſche
Bildner des Volks und haben als ſolche den größten Einfluß
auf daſſelbe. Ganz anders bei den Römern. Die Prieſter ſind
hier bloß Diener der Götter, und ihre Aufgabe beſchränkt ſich
auf die Verrichtung oder Ueberwachung des äußern Dienſtes,
das religiöſe Dogma tritt dem gegenüber in den Hintergrund,
ja kömmt in den letzten Jahrhunderten der Republik faſt ganz
in Vergeſſenheit, ſo daß jener Dienſt vielfach nichts als eine
mechaniſche Vornahme unverſtandner und dadurch bedeutungs-
los gewordner Formen ward und nur durch den conſervativen
Trieb der Römer ſo lange ſein kümmerliches Daſein friſtete.
Bei einer ſolchen Beſchränkung auf das rein Ceremonielle
konnten dieſe Prieſter keinen Einfluß aufs Leben gewinnen,
und was keinen Einfluß hatte, war in Rom auch wenig ge-

234) Die Pontifices, Augurn, Fetialen und Decemvirn haben eine ganz
andere Stellung, und ſie ſind hier natürlich nicht gemeint, ſondern nur die
eigentlichen Geiſtlichen, die flamines, der rex sacrificulus, die Veſtalinnen
u. ſ. w.
235) Es kam vor, daß ausſchweifende junge Leute zur Strafe vom Pont.
max.
zu flamines beſtimmt wurden (capti). Liv. XXVII. 8.
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[316/0334] Erſtes Buch — Uebergang zum ſpezifiſch römiſchen Recht. der Seite der römiſchen Religion und Kirchenverfaſſung zu, die zu Staat und Recht eine praktiſche Beziehung hatte. Die ausſchließlich religiöſe Seite derſelben hat für uns nur ein ne- gatives Intereſſe, inſofern ſie uns nämlich zeigt, wie weit ſie hinter der erſten zurückſtand. Die Prieſterthümer, die dieſer Seite angehörten, 234) waren als politiſch einflußlos wenig geſucht und darum von den Plebejern bei ihren Kämpfen um die geiſtlichen Stellen gar nicht begehrt. 235) Bei der Aeußerlich- keit der ganzen römiſchen Religiöſität läßt ſich an einen ſittlichen Einfluß der Prieſter auf das Volk, wie er anderwärts ſo oft vorkommt, gar nicht denken. Bei einem wirklich religiöſen Volke beſchränkt die Religion ſich nicht auf ſich ſelbſt, auf ihre Dogmen und Formen, ſondern ſie durchdringt und erfaßt das ganze ſittliche Leben der Nation. Der Beruf der Prieſter iſt dem entſprechend von derſelben Ausdehnung, ſie ſind moraliſche Bildner des Volks und haben als ſolche den größten Einfluß auf daſſelbe. Ganz anders bei den Römern. Die Prieſter ſind hier bloß Diener der Götter, und ihre Aufgabe beſchränkt ſich auf die Verrichtung oder Ueberwachung des äußern Dienſtes, das religiöſe Dogma tritt dem gegenüber in den Hintergrund, ja kömmt in den letzten Jahrhunderten der Republik faſt ganz in Vergeſſenheit, ſo daß jener Dienſt vielfach nichts als eine mechaniſche Vornahme unverſtandner und dadurch bedeutungs- los gewordner Formen ward und nur durch den conſervativen Trieb der Römer ſo lange ſein kümmerliches Daſein friſtete. Bei einer ſolchen Beſchränkung auf das rein Ceremonielle konnten dieſe Prieſter keinen Einfluß aufs Leben gewinnen, und was keinen Einfluß hatte, war in Rom auch wenig ge- 234) Die Pontifices, Augurn, Fetialen und Decemvirn haben eine ganz andere Stellung, und ſie ſind hier natürlich nicht gemeint, ſondern nur die eigentlichen Geiſtlichen, die flamines, der rex sacrificulus, die Veſtalinnen u. ſ. w. 235) Es kam vor, daß ausſchweifende junge Leute zur Strafe vom Pont. max. zu flamines beſtimmt wurden (capti). Liv. XXVII. 8.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/334>, abgerufen am 25.11.2024.