Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

1. Das Wesen des römischen Geistes. §. 20.
ihr Spiel getrieben hätten, 227) aber ebenso wenig kann ich glau-
ben, daß in der Religion allein sich die römische Sinnesweise
sollte verläugnet haben. An einer andern Stelle (§. 21) erhal-
ten wir Gelegenheit zu zeigen, wie die religiösen Institutionen
sich den Zwecken des römischen Staats fügten. So verkehrt es
sein würde auf Grund dieser Thatsache den Römern die Mei-
nung unterzuschieben, als ob diese Institutionen und die Götter
selbst nur ein Werkzeug in den Händen des römischen Staats
sein sollten, so ist doch soviel gewiß, daß objektiv jene Institutio-
nen dem Staat die wesentlichsten Dienste leisteten. Den Grund
davon kann man aber nur in jener Eigenschaft des römischen
Geistes suchen, vermöge deren er allem und jedem, was inner-
halb der römischen Welt zur Erscheinung kam, wie wenig es
auch seinem Ursprunge nach mit der Nützlichkeitsidee in Be-
ziehung stand, eine praktische Seite abzugewinnen wußte. 228)

Bewährt sich dieser Trieb selbst auf dem religiösen Gebiet,
um wie viel mehr auf dem der profanen Welt.

Diese Welt im Ganzen und Großen enthält den Triumph
der Idee der Zweckmäßigkeit; sie selbst sowie alle intellektuellen
und moralischen Kräfte, die innerhalb derselben thätig werden,
sind der Zwecke wegen da, mit Rücksicht auf sie bestimmt und ge-
staltet. Die Selbstsucht ist die Triebfeder des Ganzen; jene
ganze Schöpfung mit allen ihren Institutionen und allen den

227) Dies ist natürlich schon behauptet, es entsprach der rationalistischen
Ansicht, die in der Religion nur ein Werk der Täuschung und Berechnung zu
erblicken vermochte. S. z. B. Buchholz Philosoph. Untersuchungen über die
Römer. 3 B. Berlin 1819, ein Werk, in dem die Philosophie sich auf den
Titel beschränkt. B. 1. S. 144 u. fl. Die religiösen Feste werden S. 147 für
nichts weiter erklärt, "als Mittel, wodurch die römische Regierung die Auf-
merksamkeit des großen Haufens von sich ab und auf andere Gegenstände
hinleitete."
228) An dem englischen Volk kann man ähnliche Beobachtungen machen.
Wie manche Erscheinung läßt sich auch hier aufführen, die aus sittlichen Mo-
tiven hervorgegangen, wie z. B. die Sklaven-Emancipationsbestrebungen,
das Missionswesen u. s. w., deren sich sofort der praktische Geist der Nation
zu politischen Zwecken mit großem Erfolg bemächtigt hat.

1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
ihr Spiel getrieben hätten, 227) aber ebenſo wenig kann ich glau-
ben, daß in der Religion allein ſich die römiſche Sinnesweiſe
ſollte verläugnet haben. An einer andern Stelle (§. 21) erhal-
ten wir Gelegenheit zu zeigen, wie die religiöſen Inſtitutionen
ſich den Zwecken des römiſchen Staats fügten. So verkehrt es
ſein würde auf Grund dieſer Thatſache den Römern die Mei-
nung unterzuſchieben, als ob dieſe Inſtitutionen und die Götter
ſelbſt nur ein Werkzeug in den Händen des römiſchen Staats
ſein ſollten, ſo iſt doch ſoviel gewiß, daß objektiv jene Inſtitutio-
nen dem Staat die weſentlichſten Dienſte leiſteten. Den Grund
davon kann man aber nur in jener Eigenſchaft des römiſchen
Geiſtes ſuchen, vermöge deren er allem und jedem, was inner-
halb der römiſchen Welt zur Erſcheinung kam, wie wenig es
auch ſeinem Urſprunge nach mit der Nützlichkeitsidee in Be-
ziehung ſtand, eine praktiſche Seite abzugewinnen wußte. 228)

Bewährt ſich dieſer Trieb ſelbſt auf dem religiöſen Gebiet,
um wie viel mehr auf dem der profanen Welt.

Dieſe Welt im Ganzen und Großen enthält den Triumph
der Idee der Zweckmäßigkeit; ſie ſelbſt ſowie alle intellektuellen
und moraliſchen Kräfte, die innerhalb derſelben thätig werden,
ſind der Zwecke wegen da, mit Rückſicht auf ſie beſtimmt und ge-
ſtaltet. Die Selbſtſucht iſt die Triebfeder des Ganzen; jene
ganze Schöpfung mit allen ihren Inſtitutionen und allen den

227) Dies iſt natürlich ſchon behauptet, es entſprach der rationaliſtiſchen
Anſicht, die in der Religion nur ein Werk der Täuſchung und Berechnung zu
erblicken vermochte. S. z. B. Buchholz Philoſoph. Unterſuchungen über die
Römer. 3 B. Berlin 1819, ein Werk, in dem die Philoſophie ſich auf den
Titel beſchränkt. B. 1. S. 144 u. fl. Die religiöſen Feſte werden S. 147 für
nichts weiter erklärt, „als Mittel, wodurch die römiſche Regierung die Auf-
merkſamkeit des großen Haufens von ſich ab und auf andere Gegenſtände
hinleitete.“
228) An dem engliſchen Volk kann man ähnliche Beobachtungen machen.
Wie manche Erſcheinung läßt ſich auch hier aufführen, die aus ſittlichen Mo-
tiven hervorgegangen, wie z. B. die Sklaven-Emancipationsbeſtrebungen,
das Miſſionsweſen u. ſ. w., deren ſich ſofort der praktiſche Geiſt der Nation
zu politiſchen Zwecken mit großem Erfolg bemächtigt hat.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0315" n="297"/><fw place="top" type="header">1. Das We&#x017F;en des römi&#x017F;chen Gei&#x017F;tes. §. 20.</fw><lb/>
ihr Spiel getrieben hätten, <note place="foot" n="227)">Dies i&#x017F;t natürlich &#x017F;chon behauptet, es ent&#x017F;prach der rationali&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
An&#x017F;icht, die in der Religion nur ein Werk der Täu&#x017F;chung und Berechnung zu<lb/>
erblicken vermochte. S. z. B. Buchholz Philo&#x017F;oph. Unter&#x017F;uchungen über die<lb/>
Römer. 3 B. Berlin 1819, ein Werk, in dem die Philo&#x017F;ophie &#x017F;ich auf den<lb/>
Titel be&#x017F;chränkt. B. 1. S. 144 u. fl. Die religiö&#x017F;en Fe&#x017F;te werden S. 147 für<lb/>
nichts weiter erklärt, &#x201E;als Mittel, wodurch die römi&#x017F;che Regierung die Auf-<lb/>
merk&#x017F;amkeit des großen Haufens von &#x017F;ich ab und auf andere Gegen&#x017F;tände<lb/>
hinleitete.&#x201C;</note> aber eben&#x017F;o wenig kann ich glau-<lb/>
ben, daß in der Religion allein &#x017F;ich die römi&#x017F;che Sinneswei&#x017F;e<lb/>
&#x017F;ollte verläugnet haben. An einer andern Stelle (§. 21) erhal-<lb/>
ten wir Gelegenheit zu zeigen, wie die religiö&#x017F;en In&#x017F;titutionen<lb/>
&#x017F;ich den Zwecken des römi&#x017F;chen Staats fügten. So verkehrt es<lb/>
&#x017F;ein würde auf Grund die&#x017F;er That&#x017F;ache den Römern die Mei-<lb/>
nung unterzu&#x017F;chieben, als ob die&#x017F;e In&#x017F;titutionen und die Götter<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t nur ein Werkzeug in den Händen des römi&#x017F;chen Staats<lb/>
&#x017F;ein &#x017F;ollten, &#x017F;o i&#x017F;t doch &#x017F;oviel gewiß, daß objektiv jene In&#x017F;titutio-<lb/>
nen dem Staat die we&#x017F;entlich&#x017F;ten Dien&#x017F;te lei&#x017F;teten. Den Grund<lb/>
davon kann man aber nur in jener Eigen&#x017F;chaft des römi&#x017F;chen<lb/>
Gei&#x017F;tes &#x017F;uchen, vermöge deren er allem und jedem, was inner-<lb/>
halb der römi&#x017F;chen Welt zur Er&#x017F;cheinung kam, wie wenig es<lb/>
auch &#x017F;einem Ur&#x017F;prunge nach mit der Nützlichkeitsidee in Be-<lb/>
ziehung &#x017F;tand, eine prakti&#x017F;che Seite abzugewinnen wußte. <note place="foot" n="228)">An dem engli&#x017F;chen Volk kann man ähnliche Beobachtungen machen.<lb/>
Wie manche Er&#x017F;cheinung läßt &#x017F;ich auch hier aufführen, die aus &#x017F;ittlichen Mo-<lb/>
tiven hervorgegangen, wie z. B. die Sklaven-Emancipationsbe&#x017F;trebungen,<lb/>
das Mi&#x017F;&#x017F;ionswe&#x017F;en u. &#x017F;. w., deren &#x017F;ich &#x017F;ofort der prakti&#x017F;che Gei&#x017F;t der Nation<lb/>
zu politi&#x017F;chen Zwecken mit großem Erfolg bemächtigt hat.</note></p><lb/>
                <p>Bewährt &#x017F;ich die&#x017F;er Trieb &#x017F;elb&#x017F;t auf dem religiö&#x017F;en Gebiet,<lb/>
um wie viel mehr auf dem der profanen Welt.</p><lb/>
                <p>Die&#x017F;e Welt im Ganzen und Großen enthält den Triumph<lb/>
der Idee der Zweckmäßigkeit; &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;owie alle intellektuellen<lb/>
und morali&#x017F;chen Kräfte, die innerhalb der&#x017F;elben thätig werden,<lb/>
&#x017F;ind der Zwecke wegen da, mit Rück&#x017F;icht auf &#x017F;ie be&#x017F;timmt und ge-<lb/>
&#x017F;taltet. Die Selb&#x017F;t&#x017F;ucht i&#x017F;t die Triebfeder des Ganzen; jene<lb/>
ganze Schöpfung mit allen ihren In&#x017F;titutionen und allen den<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[297/0315] 1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20. ihr Spiel getrieben hätten, 227) aber ebenſo wenig kann ich glau- ben, daß in der Religion allein ſich die römiſche Sinnesweiſe ſollte verläugnet haben. An einer andern Stelle (§. 21) erhal- ten wir Gelegenheit zu zeigen, wie die religiöſen Inſtitutionen ſich den Zwecken des römiſchen Staats fügten. So verkehrt es ſein würde auf Grund dieſer Thatſache den Römern die Mei- nung unterzuſchieben, als ob dieſe Inſtitutionen und die Götter ſelbſt nur ein Werkzeug in den Händen des römiſchen Staats ſein ſollten, ſo iſt doch ſoviel gewiß, daß objektiv jene Inſtitutio- nen dem Staat die weſentlichſten Dienſte leiſteten. Den Grund davon kann man aber nur in jener Eigenſchaft des römiſchen Geiſtes ſuchen, vermöge deren er allem und jedem, was inner- halb der römiſchen Welt zur Erſcheinung kam, wie wenig es auch ſeinem Urſprunge nach mit der Nützlichkeitsidee in Be- ziehung ſtand, eine praktiſche Seite abzugewinnen wußte. 228) Bewährt ſich dieſer Trieb ſelbſt auf dem religiöſen Gebiet, um wie viel mehr auf dem der profanen Welt. Dieſe Welt im Ganzen und Großen enthält den Triumph der Idee der Zweckmäßigkeit; ſie ſelbſt ſowie alle intellektuellen und moraliſchen Kräfte, die innerhalb derſelben thätig werden, ſind der Zwecke wegen da, mit Rückſicht auf ſie beſtimmt und ge- ſtaltet. Die Selbſtſucht iſt die Triebfeder des Ganzen; jene ganze Schöpfung mit allen ihren Inſtitutionen und allen den 227) Dies iſt natürlich ſchon behauptet, es entſprach der rationaliſtiſchen Anſicht, die in der Religion nur ein Werk der Täuſchung und Berechnung zu erblicken vermochte. S. z. B. Buchholz Philoſoph. Unterſuchungen über die Römer. 3 B. Berlin 1819, ein Werk, in dem die Philoſophie ſich auf den Titel beſchränkt. B. 1. S. 144 u. fl. Die religiöſen Feſte werden S. 147 für nichts weiter erklärt, „als Mittel, wodurch die römiſche Regierung die Auf- merkſamkeit des großen Haufens von ſich ab und auf andere Gegenſtände hinleitete.“ 228) An dem engliſchen Volk kann man ähnliche Beobachtungen machen. Wie manche Erſcheinung läßt ſich auch hier aufführen, die aus ſittlichen Mo- tiven hervorgegangen, wie z. B. die Sklaven-Emancipationsbeſtrebungen, das Miſſionsweſen u. ſ. w., deren ſich ſofort der praktiſche Geiſt der Nation zu politiſchen Zwecken mit großem Erfolg bemächtigt hat.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/315
Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/315>, abgerufen am 25.11.2024.