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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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1. Das Wesen des römischen Geistes. §. 20.
lautenden und gleich bedeutenden Ausdrücke sein mag: die Rechts-
terminologie beider ist völlig verschieden, jedes der beiden Völ-
ker hat also die begriffliche Erfassung und Gestaltung seines
Rechts völlig selbständig vollbracht. Was man auch an ein-
zelnen Einrichtungen, Gesetzen, Gebräuchen u. s. w., die Grie-
chen und Römern gemeinschaftlich waren, aufzählen möge: auf
keinem Gebiet läßt sich die Unabhängigkeit der Römer von den
Griechen und die Eigenthümlichkeit ihres ganzen Wesens so
leicht und sicher erkennen, als auf dem des Rechts.


Das Wesen des römischen Geistes. 224)

Haben wir oben die Bedeutung Roms in die Geltend-
machung einer abstrakten Allgemeinheit in Staat und Recht
gegenüber der Partikularität des Nationalitätsprinzips gesetzt,
so könnte, wer vom römischen Volkscharakter nichts wüßte,

224) Der Philosoph von Fach möge es mir verzeihen, wenn ich mich im
folgenden an einer Aufgabe der Philosophie der Geschichte vergreife, der meine
Kräfte nicht gewachsen sind; hätte ich es gedurft, gern wäre ich ihr ausge-
wichen. Nur mit Widerstreben habe ich die folgende Ausführung dem Druck
übergeben, und nur nachdem das Vorrücken des Drucks mich zwang, diesen
Punkt, an dem ich lange nutzlos mich abgemüht habe, zu verlassen. -- Daß
eine Aufzählung aller Eigenschaften des römischen Charakters nicht genügte,
brauche ich kaum zu sagen. Eine solche Aufzählung, die das ganze geistige
und leibliche Besitzthum des Volks inventarisirt und in ihrer Genauigkeit
wohl gar auch den Hausthieren als "Gehülfen des Menschen bei der Arbeit"
einen freundlichen Blick zuwirft, erscheint mir nicht besser, als die Charakte-
ristik eines Steckbriefes. Man erfährt daraus, daß die allgemein mensch-
liche Natur sich auch bei diesem Volk nicht verläugnet habe, diese und jene
Eigenschaften sich hier in diesem und jenem Grade wieder fanden, aber
das eigentlich Spezifische und durch eine bloße Addition an Eigenschaften
nicht Wiederzugebende der Volksindividualität bleibt dabei unberücksichtigt.
Auf letzteres, das allen jenen Eigenschaften Richtung und Ausdruck gibt,
habe ich im folgenden mein Augenmerk gerichtet, ohne es für erforderlich zu
halten, es ins Einzelne hinein zu verfolgen.
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1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20.
lautenden und gleich bedeutenden Ausdrücke ſein mag: die Rechts-
terminologie beider iſt völlig verſchieden, jedes der beiden Völ-
ker hat alſo die begriffliche Erfaſſung und Geſtaltung ſeines
Rechts völlig ſelbſtändig vollbracht. Was man auch an ein-
zelnen Einrichtungen, Geſetzen, Gebräuchen u. ſ. w., die Grie-
chen und Römern gemeinſchaftlich waren, aufzählen möge: auf
keinem Gebiet läßt ſich die Unabhängigkeit der Römer von den
Griechen und die Eigenthümlichkeit ihres ganzen Weſens ſo
leicht und ſicher erkennen, als auf dem des Rechts.


Das Weſen des römiſchen Geiſtes. 224)

Haben wir oben die Bedeutung Roms in die Geltend-
machung einer abſtrakten Allgemeinheit in Staat und Recht
gegenüber der Partikularität des Nationalitätsprinzips geſetzt,
ſo könnte, wer vom römiſchen Volkscharakter nichts wüßte,

224) Der Philoſoph von Fach möge es mir verzeihen, wenn ich mich im
folgenden an einer Aufgabe der Philoſophie der Geſchichte vergreife, der meine
Kräfte nicht gewachſen ſind; hätte ich es gedurft, gern wäre ich ihr ausge-
wichen. Nur mit Widerſtreben habe ich die folgende Ausführung dem Druck
übergeben, und nur nachdem das Vorrücken des Drucks mich zwang, dieſen
Punkt, an dem ich lange nutzlos mich abgemüht habe, zu verlaſſen. — Daß
eine Aufzählung aller Eigenſchaften des römiſchen Charakters nicht genügte,
brauche ich kaum zu ſagen. Eine ſolche Aufzählung, die das ganze geiſtige
und leibliche Beſitzthum des Volks inventariſirt und in ihrer Genauigkeit
wohl gar auch den Hausthieren als „Gehülfen des Menſchen bei der Arbeit“
einen freundlichen Blick zuwirft, erſcheint mir nicht beſſer, als die Charakte-
riſtik eines Steckbriefes. Man erfährt daraus, daß die allgemein menſch-
liche Natur ſich auch bei dieſem Volk nicht verläugnet habe, dieſe und jene
Eigenſchaften ſich hier in dieſem und jenem Grade wieder fanden, aber
das eigentlich Spezifiſche und durch eine bloße Addition an Eigenſchaften
nicht Wiederzugebende der Volksindividualität bleibt dabei unberückſichtigt.
Auf letzteres, das allen jenen Eigenſchaften Richtung und Ausdruck gibt,
habe ich im folgenden mein Augenmerk gerichtet, ohne es für erforderlich zu
halten, es ins Einzelne hinein zu verfolgen.
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[291/0309] 1. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. §. 20. lautenden und gleich bedeutenden Ausdrücke ſein mag: die Rechts- terminologie beider iſt völlig verſchieden, jedes der beiden Völ- ker hat alſo die begriffliche Erfaſſung und Geſtaltung ſeines Rechts völlig ſelbſtändig vollbracht. Was man auch an ein- zelnen Einrichtungen, Geſetzen, Gebräuchen u. ſ. w., die Grie- chen und Römern gemeinſchaftlich waren, aufzählen möge: auf keinem Gebiet läßt ſich die Unabhängigkeit der Römer von den Griechen und die Eigenthümlichkeit ihres ganzen Weſens ſo leicht und ſicher erkennen, als auf dem des Rechts. Das Weſen des römiſchen Geiſtes. 224) Haben wir oben die Bedeutung Roms in die Geltend- machung einer abſtrakten Allgemeinheit in Staat und Recht gegenüber der Partikularität des Nationalitätsprinzips geſetzt, ſo könnte, wer vom römiſchen Volkscharakter nichts wüßte, 224) Der Philoſoph von Fach möge es mir verzeihen, wenn ich mich im folgenden an einer Aufgabe der Philoſophie der Geſchichte vergreife, der meine Kräfte nicht gewachſen ſind; hätte ich es gedurft, gern wäre ich ihr ausge- wichen. Nur mit Widerſtreben habe ich die folgende Ausführung dem Druck übergeben, und nur nachdem das Vorrücken des Drucks mich zwang, dieſen Punkt, an dem ich lange nutzlos mich abgemüht habe, zu verlaſſen. — Daß eine Aufzählung aller Eigenſchaften des römiſchen Charakters nicht genügte, brauche ich kaum zu ſagen. Eine ſolche Aufzählung, die das ganze geiſtige und leibliche Beſitzthum des Volks inventariſirt und in ihrer Genauigkeit wohl gar auch den Hausthieren als „Gehülfen des Menſchen bei der Arbeit“ einen freundlichen Blick zuwirft, erſcheint mir nicht beſſer, als die Charakte- riſtik eines Steckbriefes. Man erfährt daraus, daß die allgemein menſch- liche Natur ſich auch bei dieſem Volk nicht verläugnet habe, dieſe und jene Eigenſchaften ſich hier in dieſem und jenem Grade wieder fanden, aber das eigentlich Spezifiſche und durch eine bloße Addition an Eigenſchaften nicht Wiederzugebende der Volksindividualität bleibt dabei unberückſichtigt. Auf letzteres, das allen jenen Eigenſchaften Richtung und Ausdruck gibt, habe ich im folgenden mein Augenmerk gerichtet, ohne es für erforderlich zu halten, es ins Einzelne hinein zu verfolgen. 19*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/309>, abgerufen am 25.11.2024.