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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
selben Maße, als die religiöse Auffassung des Kriminalrechts
einer profanen Platz machte, verlor die Sacertät und mit ihr
die Consekration an Terrain, und der Staat übte, wo kein re-
ligiöses Bedenken entgegen stand, die Vermögensentziehung im
eignen Interesse aus, 211) wie er ja gleichfalls späterhin das sa-
cramentum
aus Civilprozessen (S. 267 Anm. 189) sich aneignete.
Wer mit der herrschenden Meinung die Sacertät und die aqua
et igni interdictio
als Strafen auffaßt, dem bieten auch sie Bei-
spiele des religiösen Charakters derselben dar. Wie aus der
bisherigen Darstellung hervorgeht, theile ich diese Meinung
nicht, und es ist jetzt an der Zeit, uns wegen der von uns auf-
gestellten Ansicht über die Sacertät zu rechtfertigen.

Jener Gesichtspunkt, vermöge dessen die Strafe als Reini-
gungsmittel erscheint, schließt die Sacertät vom System der
Strafen aus. Für letztere bleibt also kein anderer Platz übrig,
als die Zeit vor Vollziehung der Strafe, und keine andere Be-
deutung, als die eines Zustandes der Verworfenheit und Ver-
dammniß, aus dem erst die Strafe den Verbrecher errettet. Die
Sacertät ist also der Nullpunkt des Kriminalrechts in religiöser
Beziehung, ähnlich wie die vindicta publica und privata es in
profaner Beziehung ist, und im Geiste des Racheprinzips, das
die Völker, wenn sie es für sich selbst anerkennen, auch auf ihre
Götter übertragen, dürfen wir sie als den Zustand des der Rache
der Götter verfallenen Verbrechers bezeichnen. Durch diese Auf-
fassung reiht sich nun die Sacertät als eine Vorstufe der Strafe
in den Gesammtzusammenhang der strafrechtlichen Entwicklung
natürlich ein, während sie, als Strafe betrachtet, den Grund-
charakter der Strafe verläugnet. Wie die vindicta publica und
privata zur Vereinbarung über die Strafe drängen, so auch die
Sacertät. In allen drei Fällen erscheint die Strafe, möchte ich
sagen, eingeleitet und präparirt, wie die Consonanz durch die
Dissonanz, in allen drei Fällen ist diese Auflösung der Dissonanz

211) Z. B. bei den Decemvirn Liv. III, 58: bona publicata sunt.

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
ſelben Maße, als die religiöſe Auffaſſung des Kriminalrechts
einer profanen Platz machte, verlor die Sacertät und mit ihr
die Conſekration an Terrain, und der Staat übte, wo kein re-
ligiöſes Bedenken entgegen ſtand, die Vermögensentziehung im
eignen Intereſſe aus, 211) wie er ja gleichfalls ſpäterhin das sa-
cramentum
aus Civilprozeſſen (S. 267 Anm. 189) ſich aneignete.
Wer mit der herrſchenden Meinung die Sacertät und die aqua
et igni interdictio
als Strafen auffaßt, dem bieten auch ſie Bei-
ſpiele des religiöſen Charakters derſelben dar. Wie aus der
bisherigen Darſtellung hervorgeht, theile ich dieſe Meinung
nicht, und es iſt jetzt an der Zeit, uns wegen der von uns auf-
geſtellten Anſicht über die Sacertät zu rechtfertigen.

Jener Geſichtspunkt, vermöge deſſen die Strafe als Reini-
gungsmittel erſcheint, ſchließt die Sacertät vom Syſtem der
Strafen aus. Für letztere bleibt alſo kein anderer Platz übrig,
als die Zeit vor Vollziehung der Strafe, und keine andere Be-
deutung, als die eines Zuſtandes der Verworfenheit und Ver-
dammniß, aus dem erſt die Strafe den Verbrecher errettet. Die
Sacertät iſt alſo der Nullpunkt des Kriminalrechts in religiöſer
Beziehung, ähnlich wie die vindicta publica und privata es in
profaner Beziehung iſt, und im Geiſte des Racheprinzips, das
die Völker, wenn ſie es für ſich ſelbſt anerkennen, auch auf ihre
Götter übertragen, dürfen wir ſie als den Zuſtand des der Rache
der Götter verfallenen Verbrechers bezeichnen. Durch dieſe Auf-
faſſung reiht ſich nun die Sacertät als eine Vorſtufe der Strafe
in den Geſammtzuſammenhang der ſtrafrechtlichen Entwicklung
natürlich ein, während ſie, als Strafe betrachtet, den Grund-
charakter der Strafe verläugnet. Wie die vindicta publica und
privata zur Vereinbarung über die Strafe drängen, ſo auch die
Sacertät. In allen drei Fällen erſcheint die Strafe, möchte ich
ſagen, eingeleitet und präparirt, wie die Conſonanz durch die
Diſſonanz, in allen drei Fällen iſt dieſe Auflöſung der Diſſonanz

211) Z. B. bei den Decemvirn Liv. III, 58: bona publicata sunt.
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[278/0296] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. ſelben Maße, als die religiöſe Auffaſſung des Kriminalrechts einer profanen Platz machte, verlor die Sacertät und mit ihr die Conſekration an Terrain, und der Staat übte, wo kein re- ligiöſes Bedenken entgegen ſtand, die Vermögensentziehung im eignen Intereſſe aus, 211) wie er ja gleichfalls ſpäterhin das sa- cramentum aus Civilprozeſſen (S. 267 Anm. 189) ſich aneignete. Wer mit der herrſchenden Meinung die Sacertät und die aqua et igni interdictio als Strafen auffaßt, dem bieten auch ſie Bei- ſpiele des religiöſen Charakters derſelben dar. Wie aus der bisherigen Darſtellung hervorgeht, theile ich dieſe Meinung nicht, und es iſt jetzt an der Zeit, uns wegen der von uns auf- geſtellten Anſicht über die Sacertät zu rechtfertigen. Jener Geſichtspunkt, vermöge deſſen die Strafe als Reini- gungsmittel erſcheint, ſchließt die Sacertät vom Syſtem der Strafen aus. Für letztere bleibt alſo kein anderer Platz übrig, als die Zeit vor Vollziehung der Strafe, und keine andere Be- deutung, als die eines Zuſtandes der Verworfenheit und Ver- dammniß, aus dem erſt die Strafe den Verbrecher errettet. Die Sacertät iſt alſo der Nullpunkt des Kriminalrechts in religiöſer Beziehung, ähnlich wie die vindicta publica und privata es in profaner Beziehung iſt, und im Geiſte des Racheprinzips, das die Völker, wenn ſie es für ſich ſelbſt anerkennen, auch auf ihre Götter übertragen, dürfen wir ſie als den Zuſtand des der Rache der Götter verfallenen Verbrechers bezeichnen. Durch dieſe Auf- faſſung reiht ſich nun die Sacertät als eine Vorſtufe der Strafe in den Geſammtzuſammenhang der ſtrafrechtlichen Entwicklung natürlich ein, während ſie, als Strafe betrachtet, den Grund- charakter der Strafe verläugnet. Wie die vindicta publica und privata zur Vereinbarung über die Strafe drängen, ſo auch die Sacertät. In allen drei Fällen erſcheint die Strafe, möchte ich ſagen, eingeleitet und präparirt, wie die Conſonanz durch die Diſſonanz, in allen drei Fällen iſt dieſe Auflöſung der Diſſonanz 211) Z. B. bei den Decemvirn Liv. III, 58: bona publicata sunt.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/296>, abgerufen am 22.11.2024.