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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
wer daher ausgestoßen wird aus der Gemeinschaft seiner Ge-
nossen oder wegen Verbrechen sich flüchtet, dessen harrt, möchte
ich sagen, das Loos des Wildes auf dem Felde, das unstät,
ruhelos umherirrt und gejagt wird, wo es sich blicken läßt.
Alles, was ihm theuer war, läßt der Verbannte daheim, seinen
Heerd, seine Genossen, den Frieden des Rechts und die gemein-
same Verehrung der Götter, und was er mit sich nimmt, ist das
Gefühl des unsäglichen Elends, die Aussicht auf ein dem Zu-
fall, der Verfolgung, Entbehrung u. s. w. Preis gegebenes
Leben, auf Knechtschaft oder eine von der Willkühr und Gnade
seiner Schutzherrn abhängige und durch Demüthigungen aller
Art erkaufte Freiheit. Wird er angegriffen und verfolgt, so
stehen ihm keine Genossen zur Seite; fällt er im Kampf, so gibt
es für ihn keine Freunde, die ihn rächen, ihm daheim ein Tod-
tenopfer bereiten und seinem unstätt irrenden Schatten Ruhe
verschaffen.

Das ist das Exil des Alterthums in seiner ursprünglichen
Gestalt. Es enthält nicht, wie später, eine bloße capitis demi-
nutio magna,
den Verlust des Bürgerrechts, sondern den bür-
gerlichen Tod, die Verstoßung des Menschen von dem Boden
des Rechts in eine grauenvolle Einöde, in einen Zustand der
Schande und Rechtlosigkeit. Darum erschien das Exil den Rö-
mern noch in später Zeit, als demselben die schärfsten Spitzen
bereits abgebrochen waren, dennoch als eine so schwere Strafe,
daß man dem wegen eines Verbrechens in Anklagezustand Ver-
setzten bis zum Augenblick des Urtheils es frei stellte, durch frei-
williges Exil die Untersuchung nieder zu schlagen.

Die im bisherigen dargestellte Rechtsanschauung, wornach
das Recht ursprünglich mit dem Staat völlig zusammenfällt und
mit der höchsten Exklusivität nach außen hin beginnt, mag auf
den ersten Blick als eine der Entwicklung des Rechtsbegriffes
in der Geschichte hinderliche erscheinen, während sie sich doch bei
näherm Nachdenken gerade umgekehrt als höchst förderlich ergibt,
als die schützende Decke, die den Embryo des Rechts und Staats

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
wer daher ausgeſtoßen wird aus der Gemeinſchaft ſeiner Ge-
noſſen oder wegen Verbrechen ſich flüchtet, deſſen harrt, möchte
ich ſagen, das Loos des Wildes auf dem Felde, das unſtät,
ruhelos umherirrt und gejagt wird, wo es ſich blicken läßt.
Alles, was ihm theuer war, läßt der Verbannte daheim, ſeinen
Heerd, ſeine Genoſſen, den Frieden des Rechts und die gemein-
ſame Verehrung der Götter, und was er mit ſich nimmt, iſt das
Gefühl des unſäglichen Elends, die Ausſicht auf ein dem Zu-
fall, der Verfolgung, Entbehrung u. ſ. w. Preis gegebenes
Leben, auf Knechtſchaft oder eine von der Willkühr und Gnade
ſeiner Schutzherrn abhängige und durch Demüthigungen aller
Art erkaufte Freiheit. Wird er angegriffen und verfolgt, ſo
ſtehen ihm keine Genoſſen zur Seite; fällt er im Kampf, ſo gibt
es für ihn keine Freunde, die ihn rächen, ihm daheim ein Tod-
tenopfer bereiten und ſeinem unſtätt irrenden Schatten Ruhe
verſchaffen.

Das iſt das Exil des Alterthums in ſeiner urſprünglichen
Geſtalt. Es enthält nicht, wie ſpäter, eine bloße capitis demi-
nutio magna,
den Verluſt des Bürgerrechts, ſondern den bür-
gerlichen Tod, die Verſtoßung des Menſchen von dem Boden
des Rechts in eine grauenvolle Einöde, in einen Zuſtand der
Schande und Rechtloſigkeit. Darum erſchien das Exil den Rö-
mern noch in ſpäter Zeit, als demſelben die ſchärfſten Spitzen
bereits abgebrochen waren, dennoch als eine ſo ſchwere Strafe,
daß man dem wegen eines Verbrechens in Anklagezuſtand Ver-
ſetzten bis zum Augenblick des Urtheils es frei ſtellte, durch frei-
williges Exil die Unterſuchung nieder zu ſchlagen.

Die im bisherigen dargeſtellte Rechtsanſchauung, wornach
das Recht urſprünglich mit dem Staat völlig zuſammenfällt und
mit der höchſten Exkluſivität nach außen hin beginnt, mag auf
den erſten Blick als eine der Entwicklung des Rechtsbegriffes
in der Geſchichte hinderliche erſcheinen, während ſie ſich doch bei
näherm Nachdenken gerade umgekehrt als höchſt förderlich ergibt,
als die ſchützende Decke, die den Embryo des Rechts und Staats

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[222/0240] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. wer daher ausgeſtoßen wird aus der Gemeinſchaft ſeiner Ge- noſſen oder wegen Verbrechen ſich flüchtet, deſſen harrt, möchte ich ſagen, das Loos des Wildes auf dem Felde, das unſtät, ruhelos umherirrt und gejagt wird, wo es ſich blicken läßt. Alles, was ihm theuer war, läßt der Verbannte daheim, ſeinen Heerd, ſeine Genoſſen, den Frieden des Rechts und die gemein- ſame Verehrung der Götter, und was er mit ſich nimmt, iſt das Gefühl des unſäglichen Elends, die Ausſicht auf ein dem Zu- fall, der Verfolgung, Entbehrung u. ſ. w. Preis gegebenes Leben, auf Knechtſchaft oder eine von der Willkühr und Gnade ſeiner Schutzherrn abhängige und durch Demüthigungen aller Art erkaufte Freiheit. Wird er angegriffen und verfolgt, ſo ſtehen ihm keine Genoſſen zur Seite; fällt er im Kampf, ſo gibt es für ihn keine Freunde, die ihn rächen, ihm daheim ein Tod- tenopfer bereiten und ſeinem unſtätt irrenden Schatten Ruhe verſchaffen. Das iſt das Exil des Alterthums in ſeiner urſprünglichen Geſtalt. Es enthält nicht, wie ſpäter, eine bloße capitis demi- nutio magna, den Verluſt des Bürgerrechts, ſondern den bür- gerlichen Tod, die Verſtoßung des Menſchen von dem Boden des Rechts in eine grauenvolle Einöde, in einen Zuſtand der Schande und Rechtloſigkeit. Darum erſchien das Exil den Rö- mern noch in ſpäter Zeit, als demſelben die ſchärfſten Spitzen bereits abgebrochen waren, dennoch als eine ſo ſchwere Strafe, daß man dem wegen eines Verbrechens in Anklagezuſtand Ver- ſetzten bis zum Augenblick des Urtheils es frei ſtellte, durch frei- williges Exil die Unterſuchung nieder zu ſchlagen. Die im bisherigen dargeſtellte Rechtsanſchauung, wornach das Recht urſprünglich mit dem Staat völlig zuſammenfällt und mit der höchſten Exkluſivität nach außen hin beginnt, mag auf den erſten Blick als eine der Entwicklung des Rechtsbegriffes in der Geſchichte hinderliche erſcheinen, während ſie ſich doch bei näherm Nachdenken gerade umgekehrt als höchſt förderlich ergibt, als die ſchützende Decke, die den Embryo des Rechts und Staats

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/240>, abgerufen am 23.11.2024.