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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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2. Der Staat -- öffentl. garantirte Rechte. §. 15.
Recht angenommen ward, ein Recht freilich von sehr geringer
praktischer Bedeutung und nicht durch Klage geschützt, aber den-
noch ein Recht. Wer eine Ehe abgeschlossen hatte ohne die Form
der confarreatio oder coemtio, bekam weder an der Frau, noch
den Kindern die römische potestas; aber es war doch nach der
natürlichen Rechtsansicht (naturalis ratio) eine Ehe. Wer sich
eine Sache, die mancipirt zu werden pflegte, ohne Mancipations-
form hatte zu eigen geben lassen, bekam daran kein römisches
Eigenthum, war nicht zur Vindikation berechtigt, aber nach
natürlicher Rechtsansicht galt er als Eigenthümer. Insofern
man nun Recht und Klage mit einander identificirte, mußte
man in diesen und ähnlichen Fällen die Existenz eines Rechtes
verneinen und den begründeten Zustand als eine bloß faktische
Ausübung desselben bezeichnen (in facto magis consistit, quam
in jure);
insofern man dies Verhältniß aber vom Standpunkt
des subjektiven Prinzips aus beurtheilte, mußte man sagen:
nach der naturalis ratio liegt hier ein Rechtsverhältniß vor,
dem es nur an der Anerkennung von Seiten des Staats gebricht.

Man könnte mir einwenden, das angebliche Rechtsverhält-
niß bestehe in nichts anderm, als daß Jemand, der objektiv kein
Recht erworben, weil er die nöthigen Formen vernachlässigt
habe, sich dennoch einbilde, ein Recht zu haben. Allein gerade
dieser Einwand charakterisirt den Gegensatz der heutigen und
altrömischen Auffassung. Für uns, die wir den Staat als die
Quelle des Rechts betrachten, würde in jenem Falle nichts, als
die subjektive Einbildung eines Rechts vorliegen; für die
Römer aber, die den subjektiven Willen als letzten Grund des
Rechts auffaßten, fiel der Begriff des Rechtes und des Staats-
schutzes aus einander. Wie es Rechte gab, bevor der Staat
sie schützte, so auch, nachdem letzteres die Regel geworden war,
ohne daß er sie schützte. Nur die Klage, nicht das Recht selbst
gewährt und entzieht der Staat. 116) Spricht der Richter ein

116) Cicero pro Caecina c. 26 und c. 33. Nam ut perveniat ad me
14*

2. Der Staat — öffentl. garantirte Rechte. §. 15.
Recht angenommen ward, ein Recht freilich von ſehr geringer
praktiſcher Bedeutung und nicht durch Klage geſchützt, aber den-
noch ein Recht. Wer eine Ehe abgeſchloſſen hatte ohne die Form
der confarreatio oder coemtio, bekam weder an der Frau, noch
den Kindern die römiſche potestas; aber es war doch nach der
natürlichen Rechtsanſicht (naturalis ratio) eine Ehe. Wer ſich
eine Sache, die mancipirt zu werden pflegte, ohne Mancipations-
form hatte zu eigen geben laſſen, bekam daran kein römiſches
Eigenthum, war nicht zur Vindikation berechtigt, aber nach
natürlicher Rechtsanſicht galt er als Eigenthümer. Inſofern
man nun Recht und Klage mit einander identificirte, mußte
man in dieſen und ähnlichen Fällen die Exiſtenz eines Rechtes
verneinen und den begründeten Zuſtand als eine bloß faktiſche
Ausübung deſſelben bezeichnen (in facto magis consistit, quam
in jure);
inſofern man dies Verhältniß aber vom Standpunkt
des ſubjektiven Prinzips aus beurtheilte, mußte man ſagen:
nach der naturalis ratio liegt hier ein Rechtsverhältniß vor,
dem es nur an der Anerkennung von Seiten des Staats gebricht.

Man könnte mir einwenden, das angebliche Rechtsverhält-
niß beſtehe in nichts anderm, als daß Jemand, der objektiv kein
Recht erworben, weil er die nöthigen Formen vernachläſſigt
habe, ſich dennoch einbilde, ein Recht zu haben. Allein gerade
dieſer Einwand charakteriſirt den Gegenſatz der heutigen und
altrömiſchen Auffaſſung. Für uns, die wir den Staat als die
Quelle des Rechts betrachten, würde in jenem Falle nichts, als
die ſubjektive Einbildung eines Rechts vorliegen; für die
Römer aber, die den ſubjektiven Willen als letzten Grund des
Rechts auffaßten, fiel der Begriff des Rechtes und des Staats-
ſchutzes aus einander. Wie es Rechte gab, bevor der Staat
ſie ſchützte, ſo auch, nachdem letzteres die Regel geworden war,
ohne daß er ſie ſchützte. Nur die Klage, nicht das Recht ſelbſt
gewährt und entzieht der Staat. 116) Spricht der Richter ein

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[211/0229] 2. Der Staat — öffentl. garantirte Rechte. §. 15. Recht angenommen ward, ein Recht freilich von ſehr geringer praktiſcher Bedeutung und nicht durch Klage geſchützt, aber den- noch ein Recht. Wer eine Ehe abgeſchloſſen hatte ohne die Form der confarreatio oder coemtio, bekam weder an der Frau, noch den Kindern die römiſche potestas; aber es war doch nach der natürlichen Rechtsanſicht (naturalis ratio) eine Ehe. Wer ſich eine Sache, die mancipirt zu werden pflegte, ohne Mancipations- form hatte zu eigen geben laſſen, bekam daran kein römiſches Eigenthum, war nicht zur Vindikation berechtigt, aber nach natürlicher Rechtsanſicht galt er als Eigenthümer. Inſofern man nun Recht und Klage mit einander identificirte, mußte man in dieſen und ähnlichen Fällen die Exiſtenz eines Rechtes verneinen und den begründeten Zuſtand als eine bloß faktiſche Ausübung deſſelben bezeichnen (in facto magis consistit, quam in jure); inſofern man dies Verhältniß aber vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus beurtheilte, mußte man ſagen: nach der naturalis ratio liegt hier ein Rechtsverhältniß vor, dem es nur an der Anerkennung von Seiten des Staats gebricht. Man könnte mir einwenden, das angebliche Rechtsverhält- niß beſtehe in nichts anderm, als daß Jemand, der objektiv kein Recht erworben, weil er die nöthigen Formen vernachläſſigt habe, ſich dennoch einbilde, ein Recht zu haben. Allein gerade dieſer Einwand charakteriſirt den Gegenſatz der heutigen und altrömiſchen Auffaſſung. Für uns, die wir den Staat als die Quelle des Rechts betrachten, würde in jenem Falle nichts, als die ſubjektive Einbildung eines Rechts vorliegen; für die Römer aber, die den ſubjektiven Willen als letzten Grund des Rechts auffaßten, fiel der Begriff des Rechtes und des Staats- ſchutzes aus einander. Wie es Rechte gab, bevor der Staat ſie ſchützte, ſo auch, nachdem letzteres die Regel geworden war, ohne daß er ſie ſchützte. Nur die Klage, nicht das Recht ſelbſt gewährt und entzieht der Staat. 116) Spricht der Richter ein 116) Cicero pro Caecina c. 26 und c. 33. Nam ut perveniat ad me 14*

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/229>, abgerufen am 25.11.2024.