2. Der Staat -- öffentl. garantirte Rechte. §. 15.
Die ursprünglichste Form also, in der die schützende und beschränkende Macht des Staats auf dem Gebiete des Privat- rechts sich zeigt, ist die eines Vertragsverhältnisses. Die Gemeinde sichert durch Vertrag ihren Schutz zu, und der Nach- suchende läßt sich die Bedingungen gefallen, an die die Gemeinde diese Garantie knüpft. Beides also, der Schutz wie dieser Kauf- preis desselben, stützt sich auf den freien Willen der Partheien, beruht auf einem coordinirten Verhältniß. Begehrt der Berechtigte die Garantie des Volks nicht, so kann dieses ihn nicht beschränken; sein eigner Wille erschließt die Privatrechts- sphäre der Einwirkung des Staats.
Während aber diese Zuziehung des Staats ursprünglich ganz vom Standpunkt des subjektiven Prinzips aus erfolgt und einerseits als eine Consolidirung dieses Prinzips aufgefaßt werden kann, liegt andererseits darin doch bereits der Keim einer Abschwächung desselben. Es entsteht ein Gegensatz des sub- jektiven Prinzips und der Intervention von Seiten des Staats, es erhebt sich innerhalb des Rechts der Dualismus der öffent- lich garantirten und nicht garantirten Rechte, und es ist begreiflich, daß die ersteren die letzteren überflügeln und herabdrücken. Fragen wir zunächst, wie sich dies Verhält- niß innerhalb des Systems der Selbsthülfe stellte, so war der Innehaber eines nicht garantirten Rechts zur Selbsthülfe so gut berechtigt, wie der eines garantirten, und nur in der Beziehung war seine Lage eine ungünstigere, daß der Erfolg der Selbsthülfe ihm vom Volk nicht verbürgt war. Sein Recht konnte aber trotzdem so zweifellos sein z. B. wenn ein Delikt gegen ihn verübt war, daß es ihn keine Mühe kostete, den nöthi- gen Beistand zu gewinnen. Es gab manche Fälle, in denen man die Garantie des Volks gar nicht im voraus nachsuchen konnte, nämlich bei allen Delikten, andere, in denen man wegen Unbedeutendheit des Objekts dies zu unterlassen pflegte.
Die Divergenz zwischen den garantirten und nicht garan- tirten Rechten nahm aber in eben dem Maße zu, als das Sy-
Jhering, Geist d. röm. Rechts. 14
2. Der Staat — öffentl. garantirte Rechte. §. 15.
Die urſprünglichſte Form alſo, in der die ſchützende und beſchränkende Macht des Staats auf dem Gebiete des Privat- rechts ſich zeigt, iſt die eines Vertragsverhältniſſes. Die Gemeinde ſichert durch Vertrag ihren Schutz zu, und der Nach- ſuchende läßt ſich die Bedingungen gefallen, an die die Gemeinde dieſe Garantie knüpft. Beides alſo, der Schutz wie dieſer Kauf- preis deſſelben, ſtützt ſich auf den freien Willen der Partheien, beruht auf einem coordinirten Verhältniß. Begehrt der Berechtigte die Garantie des Volks nicht, ſo kann dieſes ihn nicht beſchränken; ſein eigner Wille erſchließt die Privatrechts- ſphäre der Einwirkung des Staats.
Während aber dieſe Zuziehung des Staats urſprünglich ganz vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus erfolgt und einerſeits als eine Conſolidirung dieſes Prinzips aufgefaßt werden kann, liegt andererſeits darin doch bereits der Keim einer Abſchwächung deſſelben. Es entſteht ein Gegenſatz des ſub- jektiven Prinzips und der Intervention von Seiten des Staats, es erhebt ſich innerhalb des Rechts der Dualismus der öffent- lich garantirten und nicht garantirten Rechte, und es iſt begreiflich, daß die erſteren die letzteren überflügeln und herabdrücken. Fragen wir zunächſt, wie ſich dies Verhält- niß innerhalb des Syſtems der Selbſthülfe ſtellte, ſo war der Innehaber eines nicht garantirten Rechts zur Selbſthülfe ſo gut berechtigt, wie der eines garantirten, und nur in der Beziehung war ſeine Lage eine ungünſtigere, daß der Erfolg der Selbſthülfe ihm vom Volk nicht verbürgt war. Sein Recht konnte aber trotzdem ſo zweifellos ſein z. B. wenn ein Delikt gegen ihn verübt war, daß es ihn keine Mühe koſtete, den nöthi- gen Beiſtand zu gewinnen. Es gab manche Fälle, in denen man die Garantie des Volks gar nicht im voraus nachſuchen konnte, nämlich bei allen Delikten, andere, in denen man wegen Unbedeutendheit des Objekts dies zu unterlaſſen pflegte.
Die Divergenz zwiſchen den garantirten und nicht garan- tirten Rechten nahm aber in eben dem Maße zu, als das Sy-
Jhering, Geiſt d. röm. Rechts. 14
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2. Der Staat — öffentl. garantirte Rechte. §. 15.
Die urſprünglichſte Form alſo, in der die ſchützende und
beſchränkende Macht des Staats auf dem Gebiete des Privat-
rechts ſich zeigt, iſt die eines Vertragsverhältniſſes. Die
Gemeinde ſichert durch Vertrag ihren Schutz zu, und der Nach-
ſuchende läßt ſich die Bedingungen gefallen, an die die Gemeinde
dieſe Garantie knüpft. Beides alſo, der Schutz wie dieſer Kauf-
preis deſſelben, ſtützt ſich auf den freien Willen der Partheien,
beruht auf einem coordinirten Verhältniß. Begehrt der
Berechtigte die Garantie des Volks nicht, ſo kann dieſes ihn
nicht beſchränken; ſein eigner Wille erſchließt die Privatrechts-
ſphäre der Einwirkung des Staats.
Während aber dieſe Zuziehung des Staats urſprünglich
ganz vom Standpunkt des ſubjektiven Prinzips aus erfolgt und
einerſeits als eine Conſolidirung dieſes Prinzips aufgefaßt
werden kann, liegt andererſeits darin doch bereits der Keim
einer Abſchwächung deſſelben. Es entſteht ein Gegenſatz des ſub-
jektiven Prinzips und der Intervention von Seiten des Staats,
es erhebt ſich innerhalb des Rechts der Dualismus der öffent-
lich garantirten und nicht garantirten Rechte,
und es iſt begreiflich, daß die erſteren die letzteren überflügeln
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niß innerhalb des Syſtems der Selbſthülfe ſtellte, ſo war
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ſo gut berechtigt, wie der eines garantirten, und nur in der
Beziehung war ſeine Lage eine ungünſtigere, daß der Erfolg
der Selbſthülfe ihm vom Volk nicht verbürgt war. Sein Recht
konnte aber trotzdem ſo zweifellos ſein z. B. wenn ein Delikt
gegen ihn verübt war, daß es ihn keine Mühe koſtete, den nöthi-
gen Beiſtand zu gewinnen. Es gab manche Fälle, in denen
man die Garantie des Volks gar nicht im voraus nachſuchen
konnte, nämlich bei allen Delikten, andere, in denen man wegen
Unbedeutendheit des Objekts dies zu unterlaſſen pflegte.
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/227>, abgerufen am 05.07.2024.
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