Die Familie oder die verwandschaftliche Verbindung ist auf den höhern Stufen der Rechtsbildung wenigstens in ihren ent- fernteren Schwingungen ein durchaus freies Verhältniß der in- dividuellen Liebe. Von wesentlicher Bedeutung für den Staat sind nur die zwei engsten Familienverhältnisse, die Ehe und das elterliche Verhältniß, und hinsichtlich ihrer ist er berechtigt und verpflichtet, selbst durch Rechtsvorschriften, soweit dies möglich ist, dafür zu sorgen, daß diese beiden Hauptquellen der Sittlichkeit nicht getrübt werden. Ueber diese beiden Kreise hinaus überläßt der Staat die Familie sich selbst, ihrer eignen sittlichen Lebenskraft d. h. der Liebe. Die Erfahrung aber zeigt, daß diese Lebenskraft eine schwache ist. Mit jeder Generation werden die Schwingungen einer Familie weiter; neue und engere Bande beeinträchtigen die ererbten, und mit der rasch abnehmenden Liebe und der Pflege der Verwandschaft verliert sich allmählig auch die Erinnerung derselben.
Ganz anders auf den niedrigen Stufen des staatlichen Le- bens. Es läßt sich im allgemeinen der Satz aufstellen, daß die äußere, rechtliche Organisation der Familie im umgekehrten Verhältniß zur Reife der Staatsentwicklung steht; je unvoll- kommner letztere, desto ausgebildeter jene und umgekehrt. Der Grund liegt auf der Hand. Im entwickelten Staat hat die Fa- milie weder für ihn selbst, noch für das Individunm ein recht- liches Interesse; der Staat steht im unmittelbaren Verhältniß zum Einzelnen, und letzterer besitzt an ihm seinen rechtlichen Schutz. Wo aber der Staat erst in der Bildung begriffen und darum unvermögend ist, rechtliche Hülfe zu gewähren, da be- friedigt sich das Bedürfniß derselben durch ein gegenseitiges Schutz- und Trutzbündniß der einzelnen Individuen, und zwar liegt es am nächsten, das bereits von der Natur selbst dargebo- tene Verhältniß der Familienverbindung dazu zu verwenden. Letztere erlangt auf diese Weise durch die Hülflosigkeit des Staats
Die Familie oder die verwandſchaftliche Verbindung iſt auf den höhern Stufen der Rechtsbildung wenigſtens in ihren ent- fernteren Schwingungen ein durchaus freies Verhältniß der in- dividuellen Liebe. Von weſentlicher Bedeutung für den Staat ſind nur die zwei engſten Familienverhältniſſe, die Ehe und das elterliche Verhältniß, und hinſichtlich ihrer iſt er berechtigt und verpflichtet, ſelbſt durch Rechtsvorſchriften, ſoweit dies möglich iſt, dafür zu ſorgen, daß dieſe beiden Hauptquellen der Sittlichkeit nicht getrübt werden. Ueber dieſe beiden Kreiſe hinaus überläßt der Staat die Familie ſich ſelbſt, ihrer eignen ſittlichen Lebenskraft d. h. der Liebe. Die Erfahrung aber zeigt, daß dieſe Lebenskraft eine ſchwache iſt. Mit jeder Generation werden die Schwingungen einer Familie weiter; neue und engere Bande beeinträchtigen die ererbten, und mit der raſch abnehmenden Liebe und der Pflege der Verwandſchaft verliert ſich allmählig auch die Erinnerung derſelben.
Ganz anders auf den niedrigen Stufen des ſtaatlichen Le- bens. Es läßt ſich im allgemeinen der Satz aufſtellen, daß die äußere, rechtliche Organiſation der Familie im umgekehrten Verhältniß zur Reife der Staatsentwicklung ſteht; je unvoll- kommner letztere, deſto ausgebildeter jene und umgekehrt. Der Grund liegt auf der Hand. Im entwickelten Staat hat die Fa- milie weder für ihn ſelbſt, noch für das Individunm ein recht- liches Intereſſe; der Staat ſteht im unmittelbaren Verhältniß zum Einzelnen, und letzterer beſitzt an ihm ſeinen rechtlichen Schutz. Wo aber der Staat erſt in der Bildung begriffen und darum unvermögend iſt, rechtliche Hülfe zu gewähren, da be- friedigt ſich das Bedürfniß derſelben durch ein gegenſeitiges Schutz- und Trutzbündniß der einzelnen Individuen, und zwar liegt es am nächſten, das bereits von der Natur ſelbſt dargebo- tene Verhältniß der Familienverbindung dazu zu verwenden. Letztere erlangt auf dieſe Weiſe durch die Hülfloſigkeit des Staats
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[164/0182]
Erſtes Buch — Ausgangspunkte des röm. Rechts.
gegeben haben, kennen lernen, dieſelben einer flüchtigen allge-
meinen Betrachtung unterwerfen.
Die Familie oder die verwandſchaftliche Verbindung iſt auf
den höhern Stufen der Rechtsbildung wenigſtens in ihren ent-
fernteren Schwingungen ein durchaus freies Verhältniß der in-
dividuellen Liebe. Von weſentlicher Bedeutung für den Staat
ſind nur die zwei engſten Familienverhältniſſe, die Ehe und das
elterliche Verhältniß, und hinſichtlich ihrer iſt er berechtigt und
verpflichtet, ſelbſt durch Rechtsvorſchriften, ſoweit dies
möglich iſt, dafür zu ſorgen, daß dieſe beiden Hauptquellen
der Sittlichkeit nicht getrübt werden. Ueber dieſe beiden Kreiſe
hinaus überläßt der Staat die Familie ſich ſelbſt, ihrer eignen
ſittlichen Lebenskraft d. h. der Liebe. Die Erfahrung aber zeigt,
daß dieſe Lebenskraft eine ſchwache iſt. Mit jeder Generation
werden die Schwingungen einer Familie weiter; neue und
engere Bande beeinträchtigen die ererbten, und mit der raſch
abnehmenden Liebe und der Pflege der Verwandſchaft verliert
ſich allmählig auch die Erinnerung derſelben.
Ganz anders auf den niedrigen Stufen des ſtaatlichen Le-
bens. Es läßt ſich im allgemeinen der Satz aufſtellen, daß die
äußere, rechtliche Organiſation der Familie im umgekehrten
Verhältniß zur Reife der Staatsentwicklung ſteht; je unvoll-
kommner letztere, deſto ausgebildeter jene und umgekehrt. Der
Grund liegt auf der Hand. Im entwickelten Staat hat die Fa-
milie weder für ihn ſelbſt, noch für das Individunm ein recht-
liches Intereſſe; der Staat ſteht im unmittelbaren Verhältniß
zum Einzelnen, und letzterer beſitzt an ihm ſeinen rechtlichen
Schutz. Wo aber der Staat erſt in der Bildung begriffen und
darum unvermögend iſt, rechtliche Hülfe zu gewähren, da be-
friedigt ſich das Bedürfniß derſelben durch ein gegenſeitiges
Schutz- und Trutzbündniß der einzelnen Individuen, und zwar
liegt es am nächſten, das bereits von der Natur ſelbſt dargebo-
tene Verhältniß der Familienverbindung dazu zu verwenden.
Letztere erlangt auf dieſe Weiſe durch die Hülfloſigkeit des Staats
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/182>, abgerufen am 26.07.2024.
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