Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.I. Prinzip des subj. Willens -- System der Selbsthülfe. §. 11. in eine ungekannte Vorzeit hinaufreicht, wie dies z. B. beimRecht der Fall ist. Hinsichtlich des Rechts hat die Staatsthä- tigkeit gegenüber der unmittelbaren schöpferischen und helfenden Kraft des Lebens ein solches Uebergewicht erlangt, dieselbe so sehr zurückgedrängt, daß letztere lange Zeit von der Jurispru- denz kaum mehr beachtet, die Gesetzgebung vielmehr als die ein- zige Quelle des Rechts hingestellt ward. Erst in neuerer Zeit ist die Bildung des Rechts auf unmittelbarem Wege -- das Ge- wohnheitsrecht -- von der Wissenschaft wieder zu Ehren gebracht, und Niemand würde es heutzutage wagen, den Anfang eines Rechts erst von dem Auftreten des Gesetzgebers zu datiren. Ob- gleich man sich nun, was die Bildung des Rechts anbetrifft, von jenem Wahn, als müsse alles durch den Staat geschehen, frei gemacht hat, so hat man sich doch, was die Verwirklichung desselben anbelangt, noch nicht zu einer gleich freien Auffassung erheben können. Den Richter, der im Namen des Staats Recht spricht, hält man als erstes Requisit der Rechtsordnung fest; er soll der Wächter sein, der in der Geschichte des Rechts den Anbruch des Tages verkündet, und gegen die vermeintliche Nacht, die vorher geherrscht haben soll, fühlt man ein inneres Grauen, ja man hat gar nicht einmal die Frage aufgeworfen, ob denn jene unmittelbare Organisationskraft des Lebens, die lange Zeit hindurch den Gesetzgeber entbehrlich gemacht hat, nicht dasselbe hinsichtlich des Richters hätte bewirken können. Um so überraschender ist dieses Vorurtheil, als gerade das ältere römische Recht wie vielleicht kein anderes den Ungrund desselben darzuthun vermag; vorausgesetzt nämlich daß man es nicht mit den Ideen des neunzehnten Jahrhunderts beurtheilt. Das Richteramt des älteren römischen Rechts hat eine so außer- ordentlich bescheidene Stellung, ist noch so wenig erfüllt von der Idee der Handhabung der Rechtspflege durch den Staat, daß man es mit vollem Recht als ein aus dem System der un- mittelbaren Verwirklichung des Rechts, dem System der Selbst- hülfe, heraus gebornes und zur Ergänzung desselben bestimmtes I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11. in eine ungekannte Vorzeit hinaufreicht, wie dies z. B. beimRecht der Fall iſt. Hinſichtlich des Rechts hat die Staatsthä- tigkeit gegenüber der unmittelbaren ſchöpferiſchen und helfenden Kraft des Lebens ein ſolches Uebergewicht erlangt, dieſelbe ſo ſehr zurückgedrängt, daß letztere lange Zeit von der Jurispru- denz kaum mehr beachtet, die Geſetzgebung vielmehr als die ein- zige Quelle des Rechts hingeſtellt ward. Erſt in neuerer Zeit iſt die Bildung des Rechts auf unmittelbarem Wege — das Ge- wohnheitsrecht — von der Wiſſenſchaft wieder zu Ehren gebracht, und Niemand würde es heutzutage wagen, den Anfang eines Rechts erſt von dem Auftreten des Geſetzgebers zu datiren. Ob- gleich man ſich nun, was die Bildung des Rechts anbetrifft, von jenem Wahn, als müſſe alles durch den Staat geſchehen, frei gemacht hat, ſo hat man ſich doch, was die Verwirklichung deſſelben anbelangt, noch nicht zu einer gleich freien Auffaſſung erheben können. Den Richter, der im Namen des Staats Recht ſpricht, hält man als erſtes Requiſit der Rechtsordnung feſt; er ſoll der Wächter ſein, der in der Geſchichte des Rechts den Anbruch des Tages verkündet, und gegen die vermeintliche Nacht, die vorher geherrſcht haben ſoll, fühlt man ein inneres Grauen, ja man hat gar nicht einmal die Frage aufgeworfen, ob denn jene unmittelbare Organiſationskraft des Lebens, die lange Zeit hindurch den Geſetzgeber entbehrlich gemacht hat, nicht daſſelbe hinſichtlich des Richters hätte bewirken können. Um ſo überraſchender iſt dieſes Vorurtheil, als gerade das ältere römiſche Recht wie vielleicht kein anderes den Ungrund deſſelben darzuthun vermag; vorausgeſetzt nämlich daß man es nicht mit den Ideen des neunzehnten Jahrhunderts beurtheilt. Das Richteramt des älteren römiſchen Rechts hat eine ſo außer- ordentlich beſcheidene Stellung, iſt noch ſo wenig erfüllt von der Idee der Handhabung der Rechtspflege durch den Staat, daß man es mit vollem Recht als ein aus dem Syſtem der un- mittelbaren Verwirklichung des Rechts, dem Syſtem der Selbſt- hülfe, heraus gebornes und zur Ergänzung deſſelben beſtimmtes <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p><pb facs="#f0135" n="117"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.</fw><lb/> in eine ungekannte Vorzeit hinaufreicht, wie dies z. B. beim<lb/> Recht der Fall iſt. 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I. Prinzip des ſubj. Willens — Syſtem der Selbſthülfe. §. 11.
in eine ungekannte Vorzeit hinaufreicht, wie dies z. B. beim
Recht der Fall iſt. Hinſichtlich des Rechts hat die Staatsthä-
tigkeit gegenüber der unmittelbaren ſchöpferiſchen und helfenden
Kraft des Lebens ein ſolches Uebergewicht erlangt, dieſelbe ſo
ſehr zurückgedrängt, daß letztere lange Zeit von der Jurispru-
denz kaum mehr beachtet, die Geſetzgebung vielmehr als die ein-
zige Quelle des Rechts hingeſtellt ward. Erſt in neuerer Zeit
iſt die Bildung des Rechts auf unmittelbarem Wege — das Ge-
wohnheitsrecht — von der Wiſſenſchaft wieder zu Ehren gebracht,
und Niemand würde es heutzutage wagen, den Anfang eines
Rechts erſt von dem Auftreten des Geſetzgebers zu datiren. Ob-
gleich man ſich nun, was die Bildung des Rechts anbetrifft,
von jenem Wahn, als müſſe alles durch den Staat geſchehen,
frei gemacht hat, ſo hat man ſich doch, was die Verwirklichung
deſſelben anbelangt, noch nicht zu einer gleich freien Auffaſſung
erheben können. Den Richter, der im Namen des Staats
Recht ſpricht, hält man als erſtes Requiſit der Rechtsordnung
feſt; er ſoll der Wächter ſein, der in der Geſchichte des Rechts
den Anbruch des Tages verkündet, und gegen die vermeintliche
Nacht, die vorher geherrſcht haben ſoll, fühlt man ein inneres
Grauen, ja man hat gar nicht einmal die Frage aufgeworfen,
ob denn jene unmittelbare Organiſationskraft des Lebens, die
lange Zeit hindurch den Geſetzgeber entbehrlich gemacht hat,
nicht daſſelbe hinſichtlich des Richters hätte bewirken können.
Um ſo überraſchender iſt dieſes Vorurtheil, als gerade das
ältere römiſche Recht wie vielleicht kein anderes den Ungrund
deſſelben darzuthun vermag; vorausgeſetzt nämlich daß man es
nicht mit den Ideen des neunzehnten Jahrhunderts beurtheilt.
Das Richteramt des älteren römiſchen Rechts hat eine ſo außer-
ordentlich beſcheidene Stellung, iſt noch ſo wenig erfüllt von
der Idee der Handhabung der Rechtspflege durch den Staat,
daß man es mit vollem Recht als ein aus dem Syſtem der un-
mittelbaren Verwirklichung des Rechts, dem Syſtem der Selbſt-
hülfe, heraus gebornes und zur Ergänzung deſſelben beſtimmtes
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