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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
wirklichung des Rechts aus sich heraus getrieben hat. Die Ent-
stehung des Rechts datirt sich nach unserer heutigen Auffassung
erst von der des Richteramts an.

Diese Auffassung ist erklärlich vom Standpunkt unserer
heutigen Rechtsordnung aus, ich hoffe aber am ältesten römi-
schen Recht die Unrichtigkeit derselben nachweisen zu können.
Das wesentliche nämlich im Begriff der Rechtsordnung ist die
gesicherte und constante Verwirklichung des Rechts, verkehrt ist
es aber zu glauben, als ob diese Verwirklichung nur durch den
Staat und seine Behörden, nicht aber durch die unmittelbare
Macht des Lebens erfolgen könne. Ursprünglich hat jedes Be-
dürfniß des Lebens sich durch das Leben befriedigt, und bevor
eine gesteigerte Entwicklung nach und nach besondere Organe
für die verschiedenen Aufgaben und Interessen der Gemeinschaft
ausgeschieden hat, waren letztere nicht dem Zufall Preis gege-
ben, sondern die natürliche Selbsthülfe oder Heilkraft des Lebens
half sich selber. Wir haben es erleben müssen, daß man an den
Staat die abentheuerliche Anforderung einer "Organisation der
Arbeit" gestellt hat, aber so sehr man heutzutage auch mit der
Idee eines Organisirens von Staatswegen vertraut ist, so hat
man doch jene äußerste Consequenz dieser Idee zurückgewiesen
und die Antwort ertheilt: die Arbeit organisirt sich selbst, der
Staat kann sich nicht hineinmischen. Wie wenn nun zu irgend
einer Zeit auch die Justiz sich ohne Zuthun des Staats von
selbst organisirt hätte, wenn der Staat den Individuen damals
so wenig hätte behülflich zu sein brauchen, daß sie Recht fänden,
als heutzutage, daß sie Arbeit finden?

Wenn wir heutzutage die Menge von Interessen, die der
Beaufsichtigung oder Leitung der Staatsbehörden anvertraut
sind, überschauen, so finden wir darunter manche, die noch vor
nicht gar langer Zeit sich selbst überlassen waren, und bei denen
uns doch bereits heutzutage eine Einmischung des Staats un-
entbehrlich erscheint. Um wie viel mehr muß letzteres der Fall
sein hinsichtlich jener Interessen, für die die Vorsorge des Staats

Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
wirklichung des Rechts aus ſich heraus getrieben hat. Die Ent-
ſtehung des Rechts datirt ſich nach unſerer heutigen Auffaſſung
erſt von der des Richteramts an.

Dieſe Auffaſſung iſt erklärlich vom Standpunkt unſerer
heutigen Rechtsordnung aus, ich hoffe aber am älteſten römi-
ſchen Recht die Unrichtigkeit derſelben nachweiſen zu können.
Das weſentliche nämlich im Begriff der Rechtsordnung iſt die
geſicherte und conſtante Verwirklichung des Rechts, verkehrt iſt
es aber zu glauben, als ob dieſe Verwirklichung nur durch den
Staat und ſeine Behörden, nicht aber durch die unmittelbare
Macht des Lebens erfolgen könne. Urſprünglich hat jedes Be-
dürfniß des Lebens ſich durch das Leben befriedigt, und bevor
eine geſteigerte Entwicklung nach und nach beſondere Organe
für die verſchiedenen Aufgaben und Intereſſen der Gemeinſchaft
ausgeſchieden hat, waren letztere nicht dem Zufall Preis gege-
ben, ſondern die natürliche Selbſthülfe oder Heilkraft des Lebens
half ſich ſelber. Wir haben es erleben müſſen, daß man an den
Staat die abentheuerliche Anforderung einer „Organiſation der
Arbeit“ geſtellt hat, aber ſo ſehr man heutzutage auch mit der
Idee eines Organiſirens von Staatswegen vertraut iſt, ſo hat
man doch jene äußerſte Conſequenz dieſer Idee zurückgewieſen
und die Antwort ertheilt: die Arbeit organiſirt ſich ſelbſt, der
Staat kann ſich nicht hineinmiſchen. Wie wenn nun zu irgend
einer Zeit auch die Juſtiz ſich ohne Zuthun des Staats von
ſelbſt organiſirt hätte, wenn der Staat den Individuen damals
ſo wenig hätte behülflich zu ſein brauchen, daß ſie Recht fänden,
als heutzutage, daß ſie Arbeit finden?

Wenn wir heutzutage die Menge von Intereſſen, die der
Beaufſichtigung oder Leitung der Staatsbehörden anvertraut
ſind, überſchauen, ſo finden wir darunter manche, die noch vor
nicht gar langer Zeit ſich ſelbſt überlaſſen waren, und bei denen
uns doch bereits heutzutage eine Einmiſchung des Staats un-
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[116/0134] Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts. wirklichung des Rechts aus ſich heraus getrieben hat. Die Ent- ſtehung des Rechts datirt ſich nach unſerer heutigen Auffaſſung erſt von der des Richteramts an. Dieſe Auffaſſung iſt erklärlich vom Standpunkt unſerer heutigen Rechtsordnung aus, ich hoffe aber am älteſten römi- ſchen Recht die Unrichtigkeit derſelben nachweiſen zu können. Das weſentliche nämlich im Begriff der Rechtsordnung iſt die geſicherte und conſtante Verwirklichung des Rechts, verkehrt iſt es aber zu glauben, als ob dieſe Verwirklichung nur durch den Staat und ſeine Behörden, nicht aber durch die unmittelbare Macht des Lebens erfolgen könne. Urſprünglich hat jedes Be- dürfniß des Lebens ſich durch das Leben befriedigt, und bevor eine geſteigerte Entwicklung nach und nach beſondere Organe für die verſchiedenen Aufgaben und Intereſſen der Gemeinſchaft ausgeſchieden hat, waren letztere nicht dem Zufall Preis gege- ben, ſondern die natürliche Selbſthülfe oder Heilkraft des Lebens half ſich ſelber. Wir haben es erleben müſſen, daß man an den Staat die abentheuerliche Anforderung einer „Organiſation der Arbeit“ geſtellt hat, aber ſo ſehr man heutzutage auch mit der Idee eines Organiſirens von Staatswegen vertraut iſt, ſo hat man doch jene äußerſte Conſequenz dieſer Idee zurückgewieſen und die Antwort ertheilt: die Arbeit organiſirt ſich ſelbſt, der Staat kann ſich nicht hineinmiſchen. Wie wenn nun zu irgend einer Zeit auch die Juſtiz ſich ohne Zuthun des Staats von ſelbſt organiſirt hätte, wenn der Staat den Individuen damals ſo wenig hätte behülflich zu ſein brauchen, daß ſie Recht fänden, als heutzutage, daß ſie Arbeit finden? Wenn wir heutzutage die Menge von Intereſſen, die der Beaufſichtigung oder Leitung der Staatsbehörden anvertraut ſind, überſchauen, ſo finden wir darunter manche, die noch vor nicht gar langer Zeit ſich ſelbſt überlaſſen waren, und bei denen uns doch bereits heutzutage eine Einmiſchung des Staats un- entbehrlich erſcheint. Um wie viel mehr muß letzteres der Fall ſein hinſichtlich jener Intereſſen, für die die Vorſorge des Staats

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/134>, abgerufen am 22.11.2024.