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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852.

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Das Charakteristische der römischen Kosmogonie. §. 8.
ken, und weiß den Geist der Numaischen Zeit wieder lebendig
zu machen.

Damit schließt die Schöpfungsgeschichte der römischen Welt,
denn was nachher geschieht, betrifft nur Veränderungen des
bereits vorhandenen. Sie hat darin eine gewisse Aehnlichkeit
mit der alttestamentlichen Kosmogonie, daß sie in kurzer Zeit
aus einem Nichts oder einem Chaos heraus jene ganze Welt
hervorgehen und auch die einzelnen Theile derselben hinter-
einander
und abgesondert, wie an jenen biblischen
Schöpfungstagen, zur Existenz gelangen läßt. Die Reihenfolge
hat etwas charakteristisches. Daß das Chaos, jener Zustand
des individuellen Treibens und der Willkühr den Anfang, das
Völkerrecht aber den Beschluß macht, ist durchaus in der Ord-
nung. Aber bezeichnend ist, daß die Religion erst nach dem
Recht erscheint, denn hier ist die historische Ordnung, wornach
das Recht ursprünglich einen religiösen Charakter hat und
erst später einen profanen Charakter annimmt, geradezu um-
gekehrt. Es ist diese Erscheinung bereits von andern 8) als merk-
würdig bezeichnet, und ich bin geneigt, sie als Ausdruck der
römischen Sinnesweise zu betrachten, wornach der Staat die
erste, die Religion die zweite Stelle einnahm.

Schon an dieser Umstellung einer nach aller historischen Er-
fahrung durchaus constanten Ordnung verräth sich, daß in der
Bildungsgeschichte der römischen sittlichen Welt etwas gemach-
tes ist, und dasselbe ergibt sich auch aus andern Gründen.
Niebuhrs bekannte Untersuchungen überheben uns der Mühe,
auf das einzelne einzugehen, und es genügt hier, im allgemeinen
auf die innere Unwahrscheinlichkeit der römischen Sage aufmerk-
sam zu machen. Indem letztere von dem Bestreben ausgeht, den

8) z. B. Hegel Philosophie der Geschichte S. 361: "Dieser Zug ist da-
durch sehr merkwürdig, daß die Religion später als die Staatsverbindung auf-
tritt, während bei andern Völkern die religiösen Traditionen schon in den älte-
sten Zeiten und vor allen bürgerlichen Einrichtungen erscheinen."

Das Charakteriſtiſche der römiſchen Kosmogonie. §. 8.
ken, und weiß den Geiſt der Numaiſchen Zeit wieder lebendig
zu machen.

Damit ſchließt die Schöpfungsgeſchichte der römiſchen Welt,
denn was nachher geſchieht, betrifft nur Veränderungen des
bereits vorhandenen. Sie hat darin eine gewiſſe Aehnlichkeit
mit der altteſtamentlichen Kosmogonie, daß ſie in kurzer Zeit
aus einem Nichts oder einem Chaos heraus jene ganze Welt
hervorgehen und auch die einzelnen Theile derſelben hinter-
einander
und abgeſondert, wie an jenen bibliſchen
Schöpfungstagen, zur Exiſtenz gelangen läßt. Die Reihenfolge
hat etwas charakteriſtiſches. Daß das Chaos, jener Zuſtand
des individuellen Treibens und der Willkühr den Anfang, das
Völkerrecht aber den Beſchluß macht, iſt durchaus in der Ord-
nung. Aber bezeichnend iſt, daß die Religion erſt nach dem
Recht erſcheint, denn hier iſt die hiſtoriſche Ordnung, wornach
das Recht urſprünglich einen religiöſen Charakter hat und
erſt ſpäter einen profanen Charakter annimmt, geradezu um-
gekehrt. Es iſt dieſe Erſcheinung bereits von andern 8) als merk-
würdig bezeichnet, und ich bin geneigt, ſie als Ausdruck der
römiſchen Sinnesweiſe zu betrachten, wornach der Staat die
erſte, die Religion die zweite Stelle einnahm.

Schon an dieſer Umſtellung einer nach aller hiſtoriſchen Er-
fahrung durchaus conſtanten Ordnung verräth ſich, daß in der
Bildungsgeſchichte der römiſchen ſittlichen Welt etwas gemach-
tes iſt, und daſſelbe ergibt ſich auch aus andern Gründen.
Niebuhrs bekannte Unterſuchungen überheben uns der Mühe,
auf das einzelne einzugehen, und es genügt hier, im allgemeinen
auf die innere Unwahrſcheinlichkeit der römiſchen Sage aufmerk-
ſam zu machen. Indem letztere von dem Beſtreben ausgeht, den

8) z. B. Hegel Philoſophie der Geſchichte S. 361: „Dieſer Zug iſt da-
durch ſehr merkwürdig, daß die Religion ſpäter als die Staatsverbindung auf-
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ſten Zeiten und vor allen bürgerlichen Einrichtungen erſcheinen.“
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[95/0113] Das Charakteriſtiſche der römiſchen Kosmogonie. §. 8. ken, und weiß den Geiſt der Numaiſchen Zeit wieder lebendig zu machen. Damit ſchließt die Schöpfungsgeſchichte der römiſchen Welt, denn was nachher geſchieht, betrifft nur Veränderungen des bereits vorhandenen. Sie hat darin eine gewiſſe Aehnlichkeit mit der altteſtamentlichen Kosmogonie, daß ſie in kurzer Zeit aus einem Nichts oder einem Chaos heraus jene ganze Welt hervorgehen und auch die einzelnen Theile derſelben hinter- einander und abgeſondert, wie an jenen bibliſchen Schöpfungstagen, zur Exiſtenz gelangen läßt. Die Reihenfolge hat etwas charakteriſtiſches. Daß das Chaos, jener Zuſtand des individuellen Treibens und der Willkühr den Anfang, das Völkerrecht aber den Beſchluß macht, iſt durchaus in der Ord- nung. Aber bezeichnend iſt, daß die Religion erſt nach dem Recht erſcheint, denn hier iſt die hiſtoriſche Ordnung, wornach das Recht urſprünglich einen religiöſen Charakter hat und erſt ſpäter einen profanen Charakter annimmt, geradezu um- gekehrt. Es iſt dieſe Erſcheinung bereits von andern 8) als merk- würdig bezeichnet, und ich bin geneigt, ſie als Ausdruck der römiſchen Sinnesweiſe zu betrachten, wornach der Staat die erſte, die Religion die zweite Stelle einnahm. Schon an dieſer Umſtellung einer nach aller hiſtoriſchen Er- fahrung durchaus conſtanten Ordnung verräth ſich, daß in der Bildungsgeſchichte der römiſchen ſittlichen Welt etwas gemach- tes iſt, und daſſelbe ergibt ſich auch aus andern Gründen. Niebuhrs bekannte Unterſuchungen überheben uns der Mühe, auf das einzelne einzugehen, und es genügt hier, im allgemeinen auf die innere Unwahrſcheinlichkeit der römiſchen Sage aufmerk- ſam zu machen. Indem letztere von dem Beſtreben ausgeht, den 8) z. B. Hegel Philoſophie der Geſchichte S. 361: „Dieſer Zug iſt da- durch ſehr merkwürdig, daß die Religion ſpäter als die Staatsverbindung auf- tritt, während bei andern Völkern die religiöſen Traditionen ſchon in den älte- ſten Zeiten und vor allen bürgerlichen Einrichtungen erſcheinen.“

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/113>, abgerufen am 24.11.2024.