Erstes Buch -- Ausgangspunkte des römischen Rechts.
So muß denn auch die Geschichte in Rom gewissermaßen von neuem beginnen, den langen Weg von der natürlichen Wildheit eines vorstaatlichen Zustandes, dem atomistischen Ne- beneinanderstehen der Individuen bis zur Bildung eines Volks und Staats und zur Gesittung und Religion hier von vorne zu- rücklegen. Selbst die Familien müssen sich erst in Rom bilden; Rom erhält zur Aussteuer nichts als Männer, die auf der An- fangsstufe der Geschichte stehen, Schiffbrüchige, die in sittlicher Beziehung nackt ans Land getrieben werden, also so gut sind als wären es die ersten Menschen, die die Natur producirt hat. Sie haben keine Vergangenheit, gehören nicht einem und dem- selben Volke an, sondern sind von allen Ecken zusammengelau- fen, bringen kein gemeinsames Recht, keine gemeinsamen Götter mit, keine Scheu vor alle dem, was den damaligen Völkern werth und heilig war, und werden daher auch von diesen wie ein Aus- wurf der Menschheit betrachtet.
Die erste Scene also in dieser Kosmogonie der römischen Welt ist die absolut erste Stufe der Geschichte überhaupt, die Herrschaft der Willkühr und Gewalt.
Sodann folgt als zweite Scene die Entstehung der Ge- meinschaft, eine Verbindung zu räuberischen Zwecken und aufrecht erhalten durch Gewalt oder militärische Disciplin, aber doch bereits der Anfang des Staates. Dazu gesellt sich die Fa- milie, die Consolidirung des Königthums und die Verbindung mit einem andern Volk.
Erst jetzt erscheint mit Numa Religion und Sittlichkeit. Die Ruhe nach außen hin ist gesichert, im Innern sind die Bedin- gungen des äußern Lebens gewährt, die wilde Thatkraft kann fei- ern, und so ist denn der Zeitpunkt gekommen, wo die sittliche Er- ziehung des Volkes beginnen kann. Noch einmal zwar unter Ser- vius Tullius wacht die alte Wildheit wieder auf, aber sie wen- det sich nach außen hin, und sein Nachfolger, der Repräsentant des Völkerrechts, gibt ihr legale Formen, völkerrechtliche Schran-
Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
So muß denn auch die Geſchichte in Rom gewiſſermaßen von neuem beginnen, den langen Weg von der natürlichen Wildheit eines vorſtaatlichen Zuſtandes, dem atomiſtiſchen Ne- beneinanderſtehen der Individuen bis zur Bildung eines Volks und Staats und zur Geſittung und Religion hier von vorne zu- rücklegen. Selbſt die Familien müſſen ſich erſt in Rom bilden; Rom erhält zur Ausſteuer nichts als Männer, die auf der An- fangsſtufe der Geſchichte ſtehen, Schiffbrüchige, die in ſittlicher Beziehung nackt ans Land getrieben werden, alſo ſo gut ſind als wären es die erſten Menſchen, die die Natur producirt hat. Sie haben keine Vergangenheit, gehören nicht einem und dem- ſelben Volke an, ſondern ſind von allen Ecken zuſammengelau- fen, bringen kein gemeinſames Recht, keine gemeinſamen Götter mit, keine Scheu vor alle dem, was den damaligen Völkern werth und heilig war, und werden daher auch von dieſen wie ein Aus- wurf der Menſchheit betrachtet.
Die erſte Scene alſo in dieſer Kosmogonie der römiſchen Welt iſt die abſolut erſte Stufe der Geſchichte überhaupt, die Herrſchaft der Willkühr und Gewalt.
Sodann folgt als zweite Scene die Entſtehung der Ge- meinſchaft, eine Verbindung zu räuberiſchen Zwecken und aufrecht erhalten durch Gewalt oder militäriſche Disciplin, aber doch bereits der Anfang des Staates. Dazu geſellt ſich die Fa- milie, die Conſolidirung des Königthums und die Verbindung mit einem andern Volk.
Erſt jetzt erſcheint mit Numa Religion und Sittlichkeit. Die Ruhe nach außen hin iſt geſichert, im Innern ſind die Bedin- gungen des äußern Lebens gewährt, die wilde Thatkraft kann fei- ern, und ſo iſt denn der Zeitpunkt gekommen, wo die ſittliche Er- ziehung des Volkes beginnen kann. Noch einmal zwar unter Ser- vius Tullius wacht die alte Wildheit wieder auf, aber ſie wen- det ſich nach außen hin, und ſein Nachfolger, der Repräſentant des Völkerrechts, gibt ihr legale Formen, völkerrechtliche Schran-
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Erſtes Buch — Ausgangspunkte des römiſchen Rechts.
So muß denn auch die Geſchichte in Rom gewiſſermaßen
von neuem beginnen, den langen Weg von der natürlichen
Wildheit eines vorſtaatlichen Zuſtandes, dem atomiſtiſchen Ne-
beneinanderſtehen der Individuen bis zur Bildung eines Volks
und Staats und zur Geſittung und Religion hier von vorne zu-
rücklegen. Selbſt die Familien müſſen ſich erſt in Rom bilden;
Rom erhält zur Ausſteuer nichts als Männer, die auf der An-
fangsſtufe der Geſchichte ſtehen, Schiffbrüchige, die in ſittlicher
Beziehung nackt ans Land getrieben werden, alſo ſo gut ſind als
wären es die erſten Menſchen, die die Natur producirt hat.
Sie haben keine Vergangenheit, gehören nicht einem und dem-
ſelben Volke an, ſondern ſind von allen Ecken zuſammengelau-
fen, bringen kein gemeinſames Recht, keine gemeinſamen Götter
mit, keine Scheu vor alle dem, was den damaligen Völkern werth
und heilig war, und werden daher auch von dieſen wie ein Aus-
wurf der Menſchheit betrachtet.
Die erſte Scene alſo in dieſer Kosmogonie der römiſchen
Welt iſt die abſolut erſte Stufe der Geſchichte überhaupt, die
Herrſchaft der Willkühr und Gewalt.
Sodann folgt als zweite Scene die Entſtehung der Ge-
meinſchaft, eine Verbindung zu räuberiſchen Zwecken und
aufrecht erhalten durch Gewalt oder militäriſche Disciplin, aber
doch bereits der Anfang des Staates. Dazu geſellt ſich die Fa-
milie, die Conſolidirung des Königthums und die Verbindung
mit einem andern Volk.
Erſt jetzt erſcheint mit Numa Religion und Sittlichkeit. Die
Ruhe nach außen hin iſt geſichert, im Innern ſind die Bedin-
gungen des äußern Lebens gewährt, die wilde Thatkraft kann fei-
ern, und ſo iſt denn der Zeitpunkt gekommen, wo die ſittliche Er-
ziehung des Volkes beginnen kann. Noch einmal zwar unter Ser-
vius Tullius wacht die alte Wildheit wieder auf, aber ſie wen-
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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 1. Leipzig, 1852, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht01_1852/112>, abgerufen am 16.02.2025.
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