Abendessen voll Ströme der Reden und der Liebe. Keinen andern Ge- lehrten hatt' ich Zeit und Lust zu sehen. Natürlicher Weise wars Tags darauf noch grauer und regnerischer auf der Fahrt nach Freisingen (ich erfror in meinem Mantel beinahe) bis es in der Nähe von Freisingen, das noch schöner liegt, noch schlechter wurde, nur endlich aber am aller5 schlechtesten auf der Nachmittagstraße nach München; ein Pelz über dem Mantel hätte mir wolgethan unter dem Sommerrock. Die regne- rische Einfahrt in das glänzend-gebauete München hielt endlich nach einer kurzen Fehlfahrt vor dem goldnen Adler still, dessen herrliche Vorderzimmer alle so besetzt waren, daß ich das finstere Eckzimmer in die10 Hofenge nehmen mußte. Ich glaube nicht, daß ich auf dem ganzen Wege je eine Minute lang so verdrießlich und hoffnungvoll war, als in der einlogierenden. Maxen sucht' ich im 5 Treppen hohen Neste auf, aber ich mußte einen Berichtzettel an die Thüre kleben, ich sei da und bei Schlichtegroll. Hier fand ich die fast der Schukmann jetzt ähnliche,15 körpergealterte, aber geistigvorige Schlichtegroll wieder -- es ärgert mich doch, daß die Jahre den Weibern außen mehr nehmen als den Männern innen --; und nach ihrer Vermuthung war Max bei ihrem Sohne. In 2 Minuten hing er schluchzend an mir. Sein Körper und Gesicht ist herrlich ausgearbeitet -- er ist 1/2 Kopf länger als ich,20 blühend und voller, nicht magerer im Gesicht. Er war und blieb immer fort netter, bestimmter, eleganter angekleidet als ich, und trägt doch nur die mitgebrachte Kleidung. Seine persönliche Erscheinung erreicht, ja übertrifft seine Briefe und mein ganzes Vaterherz liebt den reinen, freien, kräftigen, bescheidenen, anspruchlosen Jüngling. Als er mit25 mir von Schlichtegroll nach Hause ging, fragte er, was macht denn die Mutter; aber die Stimme erstickte ihm unter Weinen der Liebe -- und diese hat er rein und recht und ohne irrige Verschwendung. Sein innigster Freund ist ein Mitseminarist von 27 Jahren, Merk (denn im Seminar studiert sogar einer, der Frau und Kinder hat). Alle seine30 Bekannte schätzt er mit großer Schärfe in Rücksicht des wissenschaftlichen und sittlichen Strebens ab, aber doch mit gradeweiser Liebe. -- Nur die Kamaschen, aber nicht den Sommerrock und anderes hat er an- genommen, "weil er nichts brauche", sogar deinen Kaffee und Zucker nicht, auch nicht die Uhr. In seiner Wohnung kann er sich nichts35 zubereiten lassen; am Morgen nimmt er gewöhnlich nur Milch; abends nach einem fremden Gastmal nichts. Den mitgebrachten Stollen
Abendeſſen voll Ströme der Reden und der Liebe. Keinen andern Ge- lehrten hatt’ ich Zeit und Luſt zu ſehen. Natürlicher Weiſe wars Tags darauf noch grauer und regneriſcher auf der Fahrt nach Freiſingen (ich erfror in meinem Mantel beinahe) bis es in der Nähe von Freiſingen, das noch ſchöner liegt, noch ſchlechter wurde, nur endlich aber am aller5 ſchlechteſten auf der Nachmittagſtraße nach München; ein Pelz über dem Mantel hätte mir wolgethan unter dem Sommerrock. Die regne- riſche Einfahrt in das glänzend-gebauete München hielt endlich nach einer kurzen Fehlfahrt vor dem goldnen Adler ſtill, deſſen herrliche Vorderzimmer alle ſo beſetzt waren, daß ich das finſtere Eckzimmer in die10 Hofenge nehmen mußte. Ich glaube nicht, daß ich auf dem ganzen Wege je eine Minute lang ſo verdrießlich und hoffnungvoll war, als in der einlogierenden. Maxen ſucht’ ich im 5 Treppen hohen Neſte auf, aber ich mußte einen Berichtzettel an die Thüre kleben, ich ſei da und bei Schlichtegroll. Hier fand ich die faſt der Schukmann jetzt ähnliche,15 körpergealterte, aber geiſtigvorige Schlichtegroll wieder — es ärgert mich doch, daß die Jahre den Weibern außen mehr nehmen als den Männern innen —; und nach ihrer Vermuthung war Max bei ihrem Sohne. In 2 Minuten hing er ſchluchzend an mir. Sein Körper und Geſicht iſt herrlich ausgearbeitet — er iſt ½ Kopf länger als ich,20 blühend und voller, nicht magerer im Geſicht. Er war und blieb immer fort netter, beſtimmter, eleganter angekleidet als ich, und trägt doch nur die mitgebrachte Kleidung. Seine perſönliche Erſcheinung erreicht, ja übertrifft ſeine Briefe und mein ganzes Vaterherz liebt den reinen, freien, kräftigen, beſcheidenen, anſpruchloſen Jüngling. Als er mit25 mir von Schlichtegroll nach Hauſe ging, fragte er, was macht denn die Mutter; aber die Stimme erſtickte ihm unter Weinen der Liebe — und dieſe hat er rein und recht und ohne irrige Verſchwendung. Sein innigſter Freund iſt ein Mitſeminariſt von 27 Jahren, Merk (denn im Seminar ſtudiert ſogar einer, der Frau und Kinder hat). Alle ſeine30 Bekannte ſchätzt er mit großer Schärfe in Rückſicht des wiſſenſchaftlichen und ſittlichen Strebens ab, aber doch mit gradeweiſer Liebe. — Nur die Kamaſchen, aber nicht den Sommerrock und anderes hat er an- genommen, „weil er nichts brauche“, ſogar deinen Kaffee und Zucker nicht, auch nicht die Uhr. In ſeiner Wohnung kann er ſich nichts35 zubereiten laſſen; am Morgen nimmt er gewöhnlich nur Milch; abends nach einem fremden Gaſtmal nichts. Den mitgebrachten Stollen
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Abendeſſen voll Ströme der Reden und der Liebe. Keinen andern Ge-
lehrten hatt’ ich Zeit und Luſt zu ſehen. Natürlicher Weiſe wars Tags
darauf noch grauer und regneriſcher auf der Fahrt nach Freiſingen (ich
erfror in meinem Mantel beinahe) bis es in der Nähe von Freiſingen,
das noch ſchöner liegt, noch ſchlechter wurde, nur endlich aber am aller 5
ſchlechteſten auf der Nachmittagſtraße nach München; ein Pelz über
dem Mantel hätte mir wolgethan unter dem Sommerrock. Die regne-
riſche Einfahrt in das glänzend-gebauete München hielt endlich nach
einer kurzen Fehlfahrt vor dem goldnen Adler ſtill, deſſen herrliche
Vorderzimmer alle ſo beſetzt waren, daß ich das finſtere Eckzimmer in die 10
Hofenge nehmen mußte. Ich glaube nicht, daß ich auf dem ganzen Wege
je eine Minute lang ſo verdrießlich und hoffnungvoll war, als in der
einlogierenden. Maxen ſucht’ ich im 5 Treppen hohen Neſte auf, aber
ich mußte einen Berichtzettel an die Thüre kleben, ich ſei da und bei
Schlichtegroll. Hier fand ich die faſt der Schukmann jetzt ähnliche, 15
körpergealterte, aber geiſtigvorige Schlichtegroll wieder — es ärgert
mich doch, daß die Jahre den Weibern außen mehr nehmen als den
Männern innen —; und nach ihrer Vermuthung war Max bei ihrem
Sohne. In 2 Minuten hing er ſchluchzend an mir. Sein Körper und
Geſicht iſt herrlich ausgearbeitet — er iſt ½ Kopf länger als ich, 20
blühend und voller, nicht magerer im Geſicht. Er war und blieb immer
fort netter, beſtimmter, eleganter angekleidet als ich, und trägt doch
nur die mitgebrachte Kleidung. Seine perſönliche Erſcheinung erreicht,
ja übertrifft ſeine Briefe und mein ganzes Vaterherz liebt den reinen,
freien, kräftigen, beſcheidenen, anſpruchloſen Jüngling. Als er mit 25
mir von Schlichtegroll nach Hauſe ging, fragte er, was macht denn die
Mutter; aber die Stimme erſtickte ihm unter Weinen der Liebe — und
dieſe hat er rein und recht und ohne irrige Verſchwendung. Sein
innigſter Freund iſt ein Mitſeminariſt von 27 Jahren, Merk (denn im
Seminar ſtudiert ſogar einer, der Frau und Kinder hat). Alle ſeine 30
Bekannte ſchätzt er mit großer Schärfe in Rückſicht des wiſſenſchaftlichen
und ſittlichen Strebens ab, aber doch mit gradeweiſer Liebe. — Nur
die Kamaſchen, aber nicht den Sommerrock und anderes hat er an-
genommen, „weil er nichts brauche“, ſogar deinen Kaffee und Zucker
nicht, auch nicht die Uhr. In ſeiner Wohnung kann er ſich nichts 35
zubereiten laſſen; am Morgen nimmt er gewöhnlich nur Milch;
abends nach einem fremden Gaſtmal nichts. Den mitgebrachten Stollen
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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:22:18Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:22:18Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 8. Berlin, 1955, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe08_1955/39>, abgerufen am 22.11.2024.
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