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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 8. Berlin, 1955.

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Seit einem Jahre hab' ich wegen besonderer Verhältnisse die "Jahr-
bücher" nicht zu Gesicht bekommen. Der arme Böttiger bekam durch
Podagra den grauen Staar auf dem linken Auge.

314. An Emanuel.
5

Guten Morgen, mein Emanuel! Herzlichen Dank für Ihr uner-
müdetes Geben. -- Was machen Sie und die Ihrigen? Diese (bis zum
Vollmond dauernde) Gewitterhaftigkeit ist nicht gesund, sondern so viel
als hätten Sie 2 Hausärzte -- oder ich Einen. -- Ist die treffliche Dinte,
womit Sie schreiben, noch die meinige?10

315. An Kirchenrat Kaiser in Bayreuth.
[Kopie]
Bei Zurücksendung von Purgolds Nachlaß.

Bleiben Sie gesund im Dinten-Wirbel Ihrer Arbeiten, den sogar
das Ausland noch mit neuen verstärkt.15

Urtheil über Purgold.

Weniger ein Urtheil als blos eine Meinung und meine Empfindungen
kann ich über des edeln Purgolds Nachlaß aussprechen. In allen seinen
Werken glänzt ein reiner Adel des Gemüths und eine sittliche Be-
geisterung, besonders für Vaterland, Freiheit und Sprache. Jedoch dem20
sittlichen Gehalte wiegt der ästhetische nicht gleich. Dem Trauerspiele
mangeln sichtbar-fortschreitende Handlung und scharf-bezeichnete
Charaktere, und die stillen Reize der Dikzion und der musikalische Pomp
am Schlusse der Aufzüge helfen der innern Schwäche nicht ab. Abelard
hingegen wäre -- mit den neuen Verbesserungen, welche den Autor25
als einen strengen Selberrichter in Wort und Sache und als einen
ernsten Sprach- und Stilforscher darstellen -- dieses Werkchen wäre,
besonders dem jetzigen sich selber mystifizierenden [?] philosophielosen
Zeitalter neugedruckt zu gönnen, wenigstens als eine populäre beredte
Theodizee, die nicht über das Erbauen des Herzens das Bauen des30
Geistes vergißt.

Seit einem Jahre hab’ ich wegen beſonderer Verhältniſſe die „Jahr-
bücher“ nicht zu Geſicht bekommen. Der arme Böttiger bekam durch
Podagra den grauen Staar auf dem linken Auge.

314. An Emanuel.
5

Guten Morgen, mein Emanuel! Herzlichen Dank für Ihr uner-
müdetes Geben. — Was machen Sie und die Ihrigen? Dieſe (bis zum
Vollmond dauernde) Gewitterhaftigkeit iſt nicht geſund, ſondern ſo viel
als hätten Sie 2 Hausärzte — oder ich Einen. — Iſt die treffliche Dinte,
womit Sie ſchreiben, noch die meinige?10

315. An Kirchenrat Kaiſer in Bayreuth.
[Kopie]
Bei Zurückſendung von Purgolds Nachlaß.

Bleiben Sie geſund im Dinten-Wirbel Ihrer Arbeiten, den ſogar
das Ausland noch mit neuen verſtärkt.15

Urtheil über Purgold.

Weniger ein Urtheil als blos eine Meinung und meine Empfindungen
kann ich über des edeln Purgolds Nachlaß ausſprechen. In allen ſeinen
Werken glänzt ein reiner Adel des Gemüths und eine ſittliche Be-
geiſterung, beſonders für Vaterland, Freiheit und Sprache. Jedoch dem20
ſittlichen Gehalte wiegt der äſthetiſche nicht gleich. Dem Trauerſpiele
mangeln ſichtbar-fortſchreitende Handlung und ſcharf-bezeichnete
Charaktere, und die ſtillen Reize der Dikzion und der muſikaliſche Pomp
am Schluſſe der Aufzüge helfen der innern Schwäche nicht ab. Abelard
hingegen wäre — mit den neuen Verbeſſerungen, welche den Autor25
als einen ſtrengen Selberrichter in Wort und Sache und als einen
ernſten Sprach- und Stilforſcher darſtellen — dieſes Werkchen wäre,
beſonders dem jetzigen ſich ſelber myſtifizierenden [?] philoſophieloſen
Zeitalter neugedruckt zu gönnen, wenigſtens als eine populäre beredte
Theodizee, die nicht über das Erbauen des Herzens das Bauen des30
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[191/0199] Seit einem Jahre hab’ ich wegen beſonderer Verhältniſſe die „Jahr- bücher“ nicht zu Geſicht bekommen. Der arme Böttiger bekam durch Podagra den grauen Staar auf dem linken Auge. 314. An Emanuel. [Bayreuth, 29. Juni 1822] 5 Guten Morgen, mein Emanuel! Herzlichen Dank für Ihr uner- müdetes Geben. — Was machen Sie und die Ihrigen? Dieſe (bis zum Vollmond dauernde) Gewitterhaftigkeit iſt nicht geſund, ſondern ſo viel als hätten Sie 2 Hausärzte — oder ich Einen. — Iſt die treffliche Dinte, womit Sie ſchreiben, noch die meinige? 10 315. An Kirchenrat Kaiſer in Bayreuth. [Bayreuth, 8. Juli 1822] Bei Zurückſendung von Purgolds Nachlaß. Bleiben Sie geſund im Dinten-Wirbel Ihrer Arbeiten, den ſogar das Ausland noch mit neuen verſtärkt. 15 Urtheil über Purgold. Weniger ein Urtheil als blos eine Meinung und meine Empfindungen kann ich über des edeln Purgolds Nachlaß ausſprechen. In allen ſeinen Werken glänzt ein reiner Adel des Gemüths und eine ſittliche Be- geiſterung, beſonders für Vaterland, Freiheit und Sprache. Jedoch dem 20 ſittlichen Gehalte wiegt der äſthetiſche nicht gleich. Dem Trauerſpiele mangeln ſichtbar-fortſchreitende Handlung und ſcharf-bezeichnete Charaktere, und die ſtillen Reize der Dikzion und der muſikaliſche Pomp am Schluſſe der Aufzüge helfen der innern Schwäche nicht ab. Abelard hingegen wäre — mit den neuen Verbeſſerungen, welche den Autor 25 als einen ſtrengen Selberrichter in Wort und Sache und als einen ernſten Sprach- und Stilforſcher darſtellen — dieſes Werkchen wäre, beſonders dem jetzigen ſich ſelber myſtifizierenden [?] philoſophieloſen Zeitalter neugedruckt zu gönnen, wenigſtens als eine populäre beredte Theodizee, die nicht über das Erbauen des Herzens das Bauen des 30 Geiſtes vergißt.

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:22:18Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:22:18Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 8. Berlin, 1955, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe08_1955/199>, abgerufen am 02.05.2024.