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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 5. Berlin, 1961.

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meiner Freude sehr gesund und zu deinem Verdruß; denn du unter-
schreibst dich wie Voltaire gern als den alten Kranken. Sei aber nur
wie er lange genug krank, ein halbes Säkul hindurch!

Neulich hätt' ich beinahe aus zu großer Liebe für dich auf der
Stelle an dich geschrieben, als ein Fuhrmann zu mir kam und sich5
den Vater eines Sohnes nannte, der schon so lange bei dir in Diensten
steht. Er hatte doch einiges aus der nächsten Quelle geschöpft, für die
er selber die erste war. Da ich aber so lange wartete, bis er mir die
versprochne Einlage an seinen Sohn einhändigte: so schrieb ich
freilich -- da er noch nicht wiedergekommen -- erst heute.10

Du alter Weltmann und Weltweiser, du warst im Stande, in
der rohen krustigen erdscholligen Aussenseite (nämlich der mora-
lischen, nicht der bloßen körperlichen) doch die schöne, auch von
Herder und Goethe so geachtete Oreade zu verkennen, die im Berge
wohnt, genannt Fr. v. Kalb? Und die sehr schön hingezogne Mittel-15
Marks-Ebene, Mde Herz, diese kalte Musaik zufälliger Urtheile,
über jene zu setzen? -- Ich wurde zwar von ihr in Berlin sehr ge-
sucht; aber ich (Unverheiratheter) wäre nicht einmal fähig gewesen,
sie sinnlich zu lieben, geschweige anders. Gutmüthig ist sie aber sehr;
und für Künstler-Augen -- z. B. meiner Frau -- ist ihr Kopf fast20
nach der Antike ausgearbeitet. Kurz ich könnte bei ihr höchstens
wachen, nie -- träumen.

Über theoretische Philosophie zu schreiben ist jetzt auf der kriegs-
schwankenden Erde keine Möglichkeit; man dankt Gott für ein Stück
praktischer und lustiger. Indeß begehr' ich ein noch größeres, und du25
sollst meine Bitte um den Weg dazu erhören helfen. Ich sitze nämlich
hier mitten im Glanze der Natur, am Vorstadts Pol, an der Haupt-
strasse aus dem Baierschen. Wird nun wieder Krieg -- wogegen
freilich nicht nur meine Berechnung, sondern auch ein Lebens-Aber-
glaube spricht, den ich dir einmal entdecken will -- so kann mir der30
Natur glanz um vieles verdeckt werden durch einen ganz andern,
der mich wahrhaft stören würde, wenn er aufs Papier fiele, auf das
ich mein neuestes Werk "J. P. Erziehungslehre" schreibe. Kurz ich
wollte nämlich in sochem Fall an den Churfürsten -- dem oder dessen
nächstem Hofe doch mein Name bekannt ist -- mich mit der Bitte um35
Einen Protektor, Paraklet und Schirmvogt (Ein Infanterist sei es)
wenden, der mich gegen zwei Alliierte schützte; und an dich mit

meiner Freude ſehr geſund und zu deinem Verdruß; denn du unter-
ſchreibſt dich wie Voltaire gern als den alten Kranken. Sei aber nur
wie er lange genug krank, ein halbes Säkul hindurch!

Neulich hätt’ ich beinahe aus zu großer Liebe für dich auf der
Stelle an dich geſchrieben, als ein Fuhrmann zu mir kam und ſich5
den Vater eines Sohnes nannte, der ſchon ſo lange bei dir in Dienſten
ſteht. Er hatte doch einiges aus der nächſten Quelle geſchöpft, für die
er ſelber die erſte war. Da ich aber ſo lange wartete, bis er mir die
verſprochne Einlage an ſeinen Sohn einhändigte: ſo ſchrieb ich
freilich — da er noch nicht wiedergekommen — erſt heute.10

Du alter Weltmann und Weltweiſer, du warſt im Stande, in
der rohen kruſtigen erdſcholligen Auſſenſeite (nämlich der mora-
liſchen, nicht der bloßen körperlichen) doch die ſchöne, auch von
Herder und Goethe ſo geachtete Oreade zu verkennen, die im Berge
wohnt, genannt Fr. v. Kalb? Und die ſehr ſchön hingezogne Mittel-15
Marks-Ebene, Mde Herz, dieſe kalte Muſaik zufälliger Urtheile,
über jene zu ſetzen? — Ich wurde zwar von ihr in Berlin ſehr ge-
ſucht; aber ich (Unverheiratheter) wäre nicht einmal fähig geweſen,
ſie ſinnlich zu lieben, geſchweige anders. Gutmüthig iſt ſie aber ſehr;
und für Künſtler-Augen — z. B. meiner Frau — iſt ihr Kopf faſt20
nach der Antike ausgearbeitet. Kurz ich könnte bei ihr höchſtens
wachen, nie — träumen.

Über theoretiſche Philoſophie zu ſchreiben iſt jetzt auf der kriegs-
ſchwankenden Erde keine Möglichkeit; man dankt Gott für ein Stück
praktiſcher und luſtiger. Indeß begehr’ ich ein noch größeres, und du25
ſollſt meine Bitte um den Weg dazu erhören helfen. Ich ſitze nämlich
hier mitten im Glanze der Natur, am Vorſtadts Pol, an der Haupt-
ſtraſſe aus dem Baierſchen. Wird nun wieder Krieg — wogegen
freilich nicht nur meine Berechnung, ſondern auch ein Lebens-Aber-
glaube ſpricht, den ich dir einmal entdecken will — ſo kann mir der30
Natur glanz um vieles verdeckt werden durch einen ganz andern,
der mich wahrhaft ſtören würde, wenn er aufs Papier fiele, auf das
ich mein neueſtes Werk „J. P. Erziehungslehre“ ſchreibe. Kurz ich
wollte nämlich in ſochem Fall an den Churfürſten — dem oder deſſen
nächſtem Hofe doch mein Name bekannt iſt — mich mit der Bitte um35
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[71/0086] meiner Freude ſehr geſund und zu deinem Verdruß; denn du unter- ſchreibſt dich wie Voltaire gern als den alten Kranken. Sei aber nur wie er lange genug krank, ein halbes Säkul hindurch! Neulich hätt’ ich beinahe aus zu großer Liebe für dich auf der Stelle an dich geſchrieben, als ein Fuhrmann zu mir kam und ſich 5 den Vater eines Sohnes nannte, der ſchon ſo lange bei dir in Dienſten ſteht. Er hatte doch einiges aus der nächſten Quelle geſchöpft, für die er ſelber die erſte war. Da ich aber ſo lange wartete, bis er mir die verſprochne Einlage an ſeinen Sohn einhändigte: ſo ſchrieb ich freilich — da er noch nicht wiedergekommen — erſt heute. 10 Du alter Weltmann und Weltweiſer, du warſt im Stande, in der rohen kruſtigen erdſcholligen Auſſenſeite (nämlich der mora- liſchen, nicht der bloßen körperlichen) doch die ſchöne, auch von Herder und Goethe ſo geachtete Oreade zu verkennen, die im Berge wohnt, genannt Fr. v. Kalb? Und die ſehr ſchön hingezogne Mittel- 15 Marks-Ebene, Mde Herz, dieſe kalte Muſaik zufälliger Urtheile, über jene zu ſetzen? — Ich wurde zwar von ihr in Berlin ſehr ge- ſucht; aber ich (Unverheiratheter) wäre nicht einmal fähig geweſen, ſie ſinnlich zu lieben, geſchweige anders. Gutmüthig iſt ſie aber ſehr; und für Künſtler-Augen — z. B. meiner Frau — iſt ihr Kopf faſt 20 nach der Antike ausgearbeitet. Kurz ich könnte bei ihr höchſtens wachen, nie — träumen. Über theoretiſche Philoſophie zu ſchreiben iſt jetzt auf der kriegs- ſchwankenden Erde keine Möglichkeit; man dankt Gott für ein Stück praktiſcher und luſtiger. Indeß begehr’ ich ein noch größeres, und du 25 ſollſt meine Bitte um den Weg dazu erhören helfen. Ich ſitze nämlich hier mitten im Glanze der Natur, am Vorſtadts Pol, an der Haupt- ſtraſſe aus dem Baierſchen. Wird nun wieder Krieg — wogegen freilich nicht nur meine Berechnung, ſondern auch ein Lebens-Aber- glaube ſpricht, den ich dir einmal entdecken will — ſo kann mir der 30 Natur glanz um vieles verdeckt werden durch einen ganz andern, der mich wahrhaft ſtören würde, wenn er aufs Papier fiele, auf das ich mein neueſtes Werk „J. P. Erziehungslehre“ ſchreibe. Kurz ich wollte nämlich in ſochem Fall an den Churfürſten — dem oder deſſen nächſtem Hofe doch mein Name bekannt iſt — mich mit der Bitte um 35 Einen Protektor, Paraklet und Schirmvogt (Ein Infanteriſt ſei es) wenden, der mich gegen zwei Alliierte ſchützte; und an dich mit

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:13:57Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:13:57Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 5. Berlin, 1961, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe05_1961/86>, abgerufen am 22.11.2024.