Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 5. Berlin, 1961.
Und doch gäb' ich jeden unserer künftigen Abende -- den ersten Eine alte Freundin von mir -- Frau v. Kalb aus Weimar, jetzt d. 4. Mai. Gestern war Fichte bei mir und bei uns. Er will gern alles thun und
Und doch gäb’ ich jeden unſerer künftigen Abende — den erſten Eine alte Freundin von mir — Frau v. Kalb aus Weimar, jetzt d. 4. Mai. Geſtern war Fichte bei mir und bei uns. Er will gern alles thun und <TEI> <text> <body> <div type="letter" n="1"> <p><pb facs="#f0053" n="40"/><lb/> Gott danken wirſt, ſeßhaft zu ſein und Einen Menſchen weniger ge-<lb/> ſehen zu haben, „der ohnehin — ſagſt du in deinem Ruhezimmer —<lb/> noch dieſen Sommer ſich aufmacht und mich beſucht, wo ein ganz<lb/> anderes, leichteres Leben ſein ſoll, als auf der mörderiſchen Reiſe,<lb/> die der Teufel hole.“ Ich unterſchreibe, deinen Fluch ausgenommen,<lb n="5"/> alles, was du da eben ſagteſt. Ja, mein Heinrich, ich werde, ich muß<lb/> nach <hi rendition="#aq">München</hi> reiſen, um meinen <hi rendition="#aq">Herder</hi> wie auferſtanden wieder<lb/> zu finden und einen Spinoza dazu.</p><lb/> <p>Und doch gäb’ ich jeden unſerer künftigen Abende — den erſten<lb/> und letzten ausgenommen — für jenen hin, wo ich dich mit <hi rendition="#aq">Fichte</hi><lb n="10"/> zuſammen ſehen könnte, euch redliche ſcharfe Schatzgräber der<lb/> Wahrheit, die ſich halb im Himmel, halb in der Erde verbirgt. —</p><lb/> <p>Eine alte Freundin von mir — Frau <hi rendition="#aq">v. Kalb</hi> aus <hi rendition="#aq">Weimar,</hi> jetzt<lb/> in <hi rendition="#aq">Berlin</hi> — bittet mich um deine Sichtbarkeit, wenn <hi rendition="#aq">Berlin</hi> den<lb/><hi rendition="#aq">Merkurs</hi> Durchgang durch dich nimmt. Sie war eine innige<lb n="15"/> Freundin <hi rendition="#aq">Herders, Goethe’s, Schillers</hi> ꝛc.; ihr Aeußeres verſchließt<lb/> mit rauher Eichenrinde einen zarten Blütengeiſt. Sie hat mehr auf<lb/> meine Bildung eingegriffen als alle übrigen Weiber zuſammen.<lb/> Ihren Karakter ſchildert man zum Theil mit dem Worte, daß ſie<lb/> mit unendlicher Tiefe jeden Karakter eben ſchildern kann.<lb n="20"/> </p> <div> <dateline> <hi rendition="#right">d. 4. <hi rendition="#g">Mai.</hi></hi> </dateline><lb/> <p>Geſtern war Fichte bei mir und bei uns. Er will gern alles thun und<lb/> machen — z. B. den halben Weg —, um dir irgendwo anders als<lb/> auf dem dünnen Papier zu begegnen. Er hofft wirklich, dich münd-<lb/> lich in ſeine Meinung herüber zu ziehen; was ich aber nicht fürchte.<lb n="25"/> Er will dir klar machen — da ihn bisher <hi rendition="#g">niemand</hi> verſtanden,<lb/> nicht einmal du — wie Spinoza u. a. ſtets mit einer Disjunkzion<lb/> anfingen, folglich nie den Übergang erphiloſophieren konnten —<lb/> wie der Philoſoph das Unbegreifliche begreifen 〈Unbegränzte be-<lb/> gränzen〉 müſſe, obwol <hi rendition="#g">als</hi> ein ſolches, aus dem aber das begreif-<lb n="30"/> liche 〈Begränzte〉 <hi rendition="#aq">a, b, c</hi> ſich ableite — Immer iſt ihm Wiſſen =<lb/> Ich. Er achtet und lieſet wenig, du müßteſt denn einen Anhang dazu<lb/> geſchrieben haben. Er ſehnt ſich ſehr nach dir, du wirſt ihn ver-<lb/> ſtehen, nur er dich nicht. Niemand hat ſich tiefer und ſchärfer in<lb/> Einſeitigkeit hinein gehölt und gegraben als er. Wo ich <hi rendition="#g">gegen</hi> ſeine<lb n="35"/> Feinde ſpreche — oder da, wo ich ſeine Ideen in meine <hi rendition="#g">freundlich</hi><lb/> kleide und faſſe: hat niemand mehr Recht als ich; — ſonſt nie. Auf<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [40/0053]
Gott danken wirſt, ſeßhaft zu ſein und Einen Menſchen weniger ge-
ſehen zu haben, „der ohnehin — ſagſt du in deinem Ruhezimmer —
noch dieſen Sommer ſich aufmacht und mich beſucht, wo ein ganz
anderes, leichteres Leben ſein ſoll, als auf der mörderiſchen Reiſe,
die der Teufel hole.“ Ich unterſchreibe, deinen Fluch ausgenommen, 5
alles, was du da eben ſagteſt. Ja, mein Heinrich, ich werde, ich muß
nach München reiſen, um meinen Herder wie auferſtanden wieder
zu finden und einen Spinoza dazu.
Und doch gäb’ ich jeden unſerer künftigen Abende — den erſten
und letzten ausgenommen — für jenen hin, wo ich dich mit Fichte 10
zuſammen ſehen könnte, euch redliche ſcharfe Schatzgräber der
Wahrheit, die ſich halb im Himmel, halb in der Erde verbirgt. —
Eine alte Freundin von mir — Frau v. Kalb aus Weimar, jetzt
in Berlin — bittet mich um deine Sichtbarkeit, wenn Berlin den
Merkurs Durchgang durch dich nimmt. Sie war eine innige 15
Freundin Herders, Goethe’s, Schillers ꝛc.; ihr Aeußeres verſchließt
mit rauher Eichenrinde einen zarten Blütengeiſt. Sie hat mehr auf
meine Bildung eingegriffen als alle übrigen Weiber zuſammen.
Ihren Karakter ſchildert man zum Theil mit dem Worte, daß ſie
mit unendlicher Tiefe jeden Karakter eben ſchildern kann. 20
d. 4. Mai.
Geſtern war Fichte bei mir und bei uns. Er will gern alles thun und
machen — z. B. den halben Weg —, um dir irgendwo anders als
auf dem dünnen Papier zu begegnen. Er hofft wirklich, dich münd-
lich in ſeine Meinung herüber zu ziehen; was ich aber nicht fürchte. 25
Er will dir klar machen — da ihn bisher niemand verſtanden,
nicht einmal du — wie Spinoza u. a. ſtets mit einer Disjunkzion
anfingen, folglich nie den Übergang erphiloſophieren konnten —
wie der Philoſoph das Unbegreifliche begreifen 〈Unbegränzte be-
gränzen〉 müſſe, obwol als ein ſolches, aus dem aber das begreif- 30
liche 〈Begränzte〉 a, b, c ſich ableite — Immer iſt ihm Wiſſen =
Ich. Er achtet und lieſet wenig, du müßteſt denn einen Anhang dazu
geſchrieben haben. Er ſehnt ſich ſehr nach dir, du wirſt ihn ver-
ſtehen, nur er dich nicht. Niemand hat ſich tiefer und ſchärfer in
Einſeitigkeit hinein gehölt und gegraben als er. Wo ich gegen ſeine 35
Feinde ſpreche — oder da, wo ich ſeine Ideen in meine freundlich
kleide und faſſe: hat niemand mehr Recht als ich; — ſonſt nie. Auf
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(2016-11-22T15:13:57Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:13:57Z)
Weitere Informationen:Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen). Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
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