Vergeben Sie meinen verzögerten Dank für die Adrastea meinem Wunsche, ihm den Titan mitzugeben. Der Aufsaz über die Juden hat mir wie dem Herzog durch seine feine, lustige, vielseitige Gewandheit5 gefallen. Eine unaussprechliche poetische indische Süssigkeit hat die Flora Melitta und Psyche. Der Aufsaz über die Freimäuerer ist mauerisch, nämlich es wird ein Schleier von einem -- Schleier abge- zogen; und das Licht raubt die poetische Schönheit der Mysterie nicht. Luthers Markknochen und die Zinzendorfische ganze Nummer haben10 mich sehr reich gespeiset. Gegen die Atlantis hab' ich bei Seite 346 nur den Einwurf, -- troz des jenensischen wilden Jägers --, daß kein Staat und kein "Tribunal der Verständigen" ein neues philo- sophisches, oder medizinisches etc. System erfinden, sondern stets Ein Mensch. Sobald also alte, anfangs auch neue von 1 Men-15 schen erfundne Systeme gelehrt werden dürfen, sollen, warum nicht auch neue von dem Erfinder selber, zumal da es in der Wissen- schaft keine Majorität giebt, obwohl in der wissenschaftlichen Sit- lichkeit? --
Man bewundert die Gelehrsamkeit des Buchs, weil man ihrer bei20 andern nur in Einem Fache gewohnt ist, nicht aber in so vielen.
[245] Da die Adrastea eine Palingenesie und Wiederbringung des 18. Sä- kulums ist: so wil ich darin um ein Postament für einen grossen Todten, den nordischen Uraniden nachsuchen, für den aus Sonnen bestehenden Nebelflek -- Haman. Herder ist dies diesem Lands-25 und Geistes-Verwandten schuldig. Er begleite sein Wort über ihn mit einigen Worten aus ihm, damit ein solches Polar Gestirn nicht endlich hinter dem Gottesacker seiner Freunde verschwinde.
Von mir weis ich nichts zu sagen als daß wir alle blühen -- be- sonders ich -- und daß ich Ende dieser Woche mein Dintenfas in30 Coburg aufstelle. Der Herzog, den ich so bewegt verlasse als wär' es mein Jugendfreund, bot mir Frei-Quartier, die Bezahlung der Bier- Frachten und die Anschaffung beliebiger Bücher an, um mich als ein kostbares Medaillon an seinem Halse fortzubehalten. Aber er kan mich nur dankbarer, nicht irre machen.35
Leben Sie recht froh dahin. Ich grüsse alle. Geben Sie mir bald einige liebe Worte. Der lezte Brief von unserm Herder an mich war
371. An Karoline Herder.
Meiningen d. 11. Mai [1803].
Vergeben Sie meinen verzögerten Dank für die Adraſtea meinem Wunſche, ihm den Titan mitzugeben. Der Aufſaz über die Juden hat mir wie dem Herzog durch ſeine feine, luſtige, vielſeitige Gewandheit5 gefallen. Eine unausſprechliche poetiſche indiſche Süſſigkeit hat die Flora Melitta und Pſyche. Der Aufſaz über die Freimäuerer iſt maueriſch, nämlich es wird ein Schleier von einem — Schleier abge- zogen; und das Licht raubt die poetiſche Schönheit der Myſterie nicht. Luthers Markknochen und die Zinzendorfiſche ganze Nummer haben10 mich ſehr reich geſpeiſet. Gegen die Atlantis hab’ ich bei Seite 346 nur den Einwurf, — troz des jenenſiſchen wilden Jägers —, daß kein Staat und kein „Tribunal der Verſtändigen“ ein neues philo- ſophiſches, oder mediziniſches ꝛc. Syſtem erfinden, ſondern ſtets Ein Menſch. Sobald alſo alte, anfangs auch neue von 1 Men-15 ſchen erfundne Syſteme gelehrt werden dürfen, 〈ſollen,〉 warum nicht auch neue von dem Erfinder ſelber, zumal da es in der Wiſſen- ſchaft keine Majorität giebt, obwohl in der wiſſenſchaftlichen Sit- lichkeit? —
Man bewundert die Gelehrſamkeit des Buchs, weil man ihrer bei20 andern nur in Einem Fache gewohnt iſt, nicht aber in ſo vielen.
[245] Da die Adraſtea eine Palingeneſie und Wiederbringung des 18. Sä- kulums iſt: ſo wil ich darin um ein Poſtament für einen groſſen Todten, den nordiſchen Uraniden nachſuchen, für den aus Sonnen beſtehenden Nebelflek — Haman. Herder iſt dies dieſem Lands-25 und Geiſtes-Verwandten ſchuldig. Er begleite ſein Wort über ihn mit einigen Worten aus ihm, damit ein ſolches Polar Geſtirn nicht endlich hinter dem Gottesacker ſeiner Freunde verſchwinde.
Von mir weis ich nichts zu ſagen als daß wir alle blühen — be- ſonders ich — und daß ich Ende dieſer Woche mein Dintenfas in30 Coburg aufſtelle. Der Herzog, den ich ſo bewegt verlaſſe als wär’ es mein Jugendfreund, bot mir Frei-Quartier, die Bezahlung der Bier- Frachten und die Anſchaffung beliebiger Bücher an, um mich als ein koſtbares Medaillon an ſeinem Halſe fortzubehalten. Aber er kan mich nur dankbarer, nicht irre machen.35
Leben Sie recht froh dahin. Ich grüſſe alle. Geben Sie mir bald einige liebe Worte. Der lezte Brief von unſerm Herder an mich war
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Wunſche, ihm den Titan mitzugeben. Der Aufſaz über die Juden hat
mir wie dem Herzog durch ſeine feine, luſtige, vielſeitige Gewandheit 5
gefallen. Eine unausſprechliche poetiſche indiſche Süſſigkeit hat die
Flora Melitta und Pſyche. Der Aufſaz über die Freimäuerer iſt
maueriſch, nämlich es wird ein Schleier von einem — Schleier abge-
zogen; und das Licht raubt die poetiſche Schönheit der Myſterie nicht.
Luthers Markknochen und die Zinzendorfiſche ganze Nummer haben 10
mich ſehr reich geſpeiſet. Gegen die Atlantis hab’ ich bei Seite 346
nur den Einwurf, — troz des jenenſiſchen wilden Jägers —, daß
kein Staat und kein „Tribunal der Verſtändigen“ ein neues philo-
ſophiſches, oder mediziniſches ꝛc. Syſtem erfinden, ſondern ſtets
Ein Menſch. Sobald alſo alte, anfangs auch neue von 1 Men- 15
ſchen erfundne Syſteme gelehrt werden dürfen, 〈ſollen,〉 warum
nicht auch neue von dem Erfinder ſelber, zumal da es in der Wiſſen-
ſchaft keine Majorität giebt, obwohl in der wiſſenſchaftlichen Sit-
lichkeit? —
Man bewundert die Gelehrſamkeit des Buchs, weil man ihrer bei 20
andern nur in Einem Fache gewohnt iſt, nicht aber in ſo vielen.
Da die Adraſtea eine Palingeneſie und Wiederbringung des 18. Sä-
kulums iſt: ſo wil ich darin um ein Poſtament für einen groſſen
Todten, den nordiſchen Uraniden nachſuchen, für den aus Sonnen
beſtehenden Nebelflek — Haman. Herder iſt dies dieſem Lands- 25
und Geiſtes-Verwandten ſchuldig. Er begleite ſein Wort über ihn
mit einigen Worten aus ihm, damit ein ſolches Polar Geſtirn nicht
endlich hinter dem Gottesacker ſeiner Freunde verſchwinde.
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Von mir weis ich nichts zu ſagen als daß wir alle blühen — be-
ſonders ich — und daß ich Ende dieſer Woche mein Dintenfas in 30
Coburg aufſtelle. Der Herzog, den ich ſo bewegt verlaſſe als wär’ es
mein Jugendfreund, bot mir Frei-Quartier, die Bezahlung der Bier-
Frachten und die Anſchaffung beliebiger Bücher an, um mich als ein
koſtbares Medaillon an ſeinem Halſe fortzubehalten. Aber er kan mich
nur dankbarer, nicht irre machen. 35
Leben Sie recht froh dahin. Ich grüſſe alle. Geben Sie mir bald
einige liebe Worte. Der lezte Brief von unſerm Herder an mich war
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:08:29Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:08:29Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 4. Berlin, 1960, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe04_1960/227>, abgerufen am 16.02.2025.
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