Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 4. Berlin, 1960.

Bild:
<< vorherige Seite
371. An Karoline Herder.

Vergeben Sie meinen verzögerten Dank für die Adrastea meinem
Wunsche, ihm den Titan mitzugeben. Der Aufsaz über die Juden hat
mir wie dem Herzog durch seine feine, lustige, vielseitige Gewandheit5
gefallen. Eine unaussprechliche poetische indische Süssigkeit hat die
Flora Melitta und Psyche. Der Aufsaz über die Freimäuerer ist
mauerisch, nämlich es wird ein Schleier von einem -- Schleier abge-
zogen; und das Licht raubt die poetische Schönheit der Mysterie nicht.
Luthers Markknochen und die Zinzendorfische ganze Nummer haben10
mich sehr reich gespeiset. Gegen die Atlantis hab' ich bei Seite 346
nur den Einwurf, -- troz des jenensischen wilden Jägers --, daß
kein Staat und kein "Tribunal der Verständigen" ein neues philo-
sophisches, oder medizinisches etc. System erfinden, sondern stets
Ein Mensch. Sobald also alte, anfangs auch neue von 1 Men-15
schen erfundne Systeme gelehrt werden dürfen, sollen, warum
nicht auch neue von dem Erfinder selber, zumal da es in der Wissen-
schaft keine Majorität giebt, obwohl in der wissenschaftlichen Sit-
lichkeit? --

Man bewundert die Gelehrsamkeit des Buchs, weil man ihrer bei20
andern nur in Einem Fache gewohnt ist, nicht aber in so vielen.

[245] Da die Adrastea eine Palingenesie und Wiederbringung des 18. Sä-
kulums ist: so wil ich darin um ein Postament für einen grossen
Todten, den nordischen Uraniden nachsuchen, für den aus Sonnen
bestehenden Nebelflek -- Haman. Herder ist dies diesem Lands-25
und Geistes-Verwandten schuldig. Er begleite sein Wort über ihn
mit einigen Worten aus ihm, damit ein solches Polar Gestirn nicht
endlich hinter dem Gottesacker seiner Freunde verschwinde.

Von mir weis ich nichts zu sagen als daß wir alle blühen -- be-
sonders ich -- und daß ich Ende dieser Woche mein Dintenfas in30
Coburg aufstelle. Der Herzog, den ich so bewegt verlasse als wär' es
mein Jugendfreund, bot mir Frei-Quartier, die Bezahlung der Bier-
Frachten und die Anschaffung beliebiger Bücher an, um mich als ein
kostbares Medaillon an seinem Halse fortzubehalten. Aber er kan mich
nur dankbarer, nicht irre machen.35

Leben Sie recht froh dahin. Ich grüsse alle. Geben Sie mir bald
einige liebe Worte. Der lezte Brief von unserm Herder an mich war

371. An Karoline Herder.

Vergeben Sie meinen verzögerten Dank für die Adraſtea meinem
Wunſche, ihm den Titan mitzugeben. Der Aufſaz über die Juden hat
mir wie dem Herzog durch ſeine feine, luſtige, vielſeitige Gewandheit5
gefallen. Eine unausſprechliche poetiſche indiſche Süſſigkeit hat die
Flora Melitta und Pſyche. Der Aufſaz über die Freimäuerer iſt
maueriſch, nämlich es wird ein Schleier von einem — Schleier abge-
zogen; und das Licht raubt die poetiſche Schönheit der Myſterie nicht.
Luthers Markknochen und die Zinzendorfiſche ganze Nummer haben10
mich ſehr reich geſpeiſet. Gegen die Atlantis hab’ ich bei Seite 346
nur den Einwurf, — troz des jenenſiſchen wilden Jägers —, daß
kein Staat und kein „Tribunal der Verſtändigen“ ein neues philo-
ſophiſches, oder mediziniſches ꝛc. Syſtem erfinden, ſondern ſtets
Ein Menſch. Sobald alſo alte, anfangs auch neue von 1 Men-15
ſchen erfundne Syſteme gelehrt werden dürfen, 〈ſollen,〉 warum
nicht auch neue von dem Erfinder ſelber, zumal da es in der Wiſſen-
ſchaft keine Majorität giebt, obwohl in der wiſſenſchaftlichen Sit-
lichkeit? —

Man bewundert die Gelehrſamkeit des Buchs, weil man ihrer bei20
andern nur in Einem Fache gewohnt iſt, nicht aber in ſo vielen.

[245] Da die Adraſtea eine Palingeneſie und Wiederbringung des 18. Sä-
kulums iſt: ſo wil ich darin um ein Poſtament für einen groſſen
Todten, den nordiſchen Uraniden nachſuchen, für den aus Sonnen
beſtehenden NebelflekHaman. Herder iſt dies dieſem Lands-25
und Geiſtes-Verwandten ſchuldig. Er begleite ſein Wort über ihn
mit einigen Worten aus ihm, damit ein ſolches Polar Geſtirn nicht
endlich hinter dem Gottesacker ſeiner Freunde verſchwinde.

Von mir weis ich nichts zu ſagen als daß wir alle blühen — be-
ſonders ich — und daß ich Ende dieſer Woche mein Dintenfas in30
Coburg aufſtelle. Der Herzog, den ich ſo bewegt verlaſſe als wär’ es
mein Jugendfreund, bot mir Frei-Quartier, die Bezahlung der Bier-
Frachten und die Anſchaffung beliebiger Bücher an, um mich als ein
koſtbares Medaillon an ſeinem Halſe fortzubehalten. Aber er kan mich
nur dankbarer, nicht irre machen.35

Leben Sie recht froh dahin. Ich grüſſe alle. Geben Sie mir bald
einige liebe Worte. Der lezte Brief von unſerm Herder an mich war

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0227" n="220"/>
      <div type="letter" n="1">
        <head>371. An <hi rendition="#g">Karoline Herder.</hi></head><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#right"><hi rendition="#aq">Meiningen</hi> d. 11. Mai [1803].</hi> </dateline><lb/>
        <p>Vergeben Sie meinen verzögerten Dank für die Adra&#x017F;tea meinem<lb/>
Wun&#x017F;che, ihm den Titan mitzugeben. Der Auf&#x017F;az über die Juden hat<lb/>
mir wie dem Herzog durch &#x017F;eine feine, lu&#x017F;tige, viel&#x017F;eitige Gewandheit<lb n="5"/>
gefallen. Eine unaus&#x017F;prechliche poeti&#x017F;che indi&#x017F;che Sü&#x017F;&#x017F;igkeit hat die<lb/>
Flora Melitta und P&#x017F;yche. Der Auf&#x017F;az über die Freimäuerer i&#x017F;t<lb/>
maueri&#x017F;ch, nämlich es wird ein Schleier von einem &#x2014; Schleier abge-<lb/>
zogen; und das Licht raubt die poeti&#x017F;che Schönheit der My&#x017F;terie nicht.<lb/>
Luthers Markknochen und die Zinzendorfi&#x017F;che ganze Nummer haben<lb n="10"/>
mich &#x017F;ehr reich ge&#x017F;pei&#x017F;et. Gegen die Atlantis hab&#x2019; ich bei Seite 346<lb/>
nur den Einwurf, &#x2014; troz des jenen&#x017F;i&#x017F;chen wilden Jägers &#x2014;, daß<lb/>
kein Staat und kein &#x201E;Tribunal der Ver&#x017F;tändigen&#x201C; ein neues philo-<lb/>
&#x017F;ophi&#x017F;ches, oder medizini&#x017F;ches &#xA75B;c. Sy&#x017F;tem erfinden, &#x017F;ondern &#x017F;tets<lb/>
Ein Men&#x017F;ch. Sobald al&#x017F;o alte, anfangs auch neue von 1 Men-<lb n="15"/>
&#x017F;chen erfundne Sy&#x017F;teme gelehrt werden dürfen, &#x2329;&#x017F;ollen,&#x232A; warum<lb/>
nicht auch neue von dem Erfinder &#x017F;elber, zumal da es in der Wi&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
&#x017F;chaft keine Majorität giebt, obwohl in der wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen Sit-<lb/>
lichkeit? &#x2014;</p><lb/>
        <p>Man bewundert die Gelehr&#x017F;amkeit des Buchs, weil man ihrer bei<lb n="20"/>
andern nur in Einem Fache gewohnt i&#x017F;t, nicht aber in &#x017F;o vielen.</p><lb/>
        <p><note place="left"><ref target="1922_Bd4_245">[245]</ref></note> Da die Adra&#x017F;tea eine Palingene&#x017F;ie und Wiederbringung des 18. Sä-<lb/>
kulums i&#x017F;t: &#x017F;o wil ich darin um ein Po&#x017F;tament für einen gro&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Todten, den nordi&#x017F;chen Uraniden nach&#x017F;uchen, für den aus Sonnen<lb/>
be&#x017F;tehenden <hi rendition="#g">Nebelflek</hi> &#x2014; <hi rendition="#aq">Haman. Herder</hi> i&#x017F;t dies die&#x017F;em Lands-<lb n="25"/>
und Gei&#x017F;tes-Verwandten &#x017F;chuldig. Er begleite &#x017F;ein Wort <hi rendition="#g">über</hi> ihn<lb/>
mit einigen Worten <hi rendition="#g">aus</hi> ihm, damit ein &#x017F;olches Polar Ge&#x017F;tirn nicht<lb/>
endlich hinter dem Gottesacker &#x017F;einer Freunde ver&#x017F;chwinde.</p><lb/>
        <p>Von mir weis ich nichts zu &#x017F;agen als daß wir alle blühen &#x2014; be-<lb/>
&#x017F;onders ich &#x2014; und daß ich Ende die&#x017F;er Woche mein Dintenfas in<lb n="30"/> <hi rendition="#aq">Coburg</hi> auf&#x017F;telle. Der Herzog, den ich &#x017F;o bewegt verla&#x017F;&#x017F;e als wär&#x2019; es<lb/>
mein Jugendfreund, bot mir Frei-Quartier, die Bezahlung der Bier-<lb/>
Frachten und die An&#x017F;chaffung beliebiger Bücher an, um mich als ein<lb/>
ko&#x017F;tbares Medaillon an &#x017F;einem Hal&#x017F;e fortzubehalten. Aber er kan mich<lb/>
nur dankbarer, nicht irre machen.<lb n="35"/>
</p>
        <p>Leben Sie recht froh dahin. Ich grü&#x017F;&#x017F;e alle. Geben Sie mir bald<lb/>
einige liebe Worte. Der lezte Brief von un&#x017F;erm <hi rendition="#aq">Herder</hi> an mich war<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[220/0227] 371. An Karoline Herder. Meiningen d. 11. Mai [1803]. Vergeben Sie meinen verzögerten Dank für die Adraſtea meinem Wunſche, ihm den Titan mitzugeben. Der Aufſaz über die Juden hat mir wie dem Herzog durch ſeine feine, luſtige, vielſeitige Gewandheit 5 gefallen. Eine unausſprechliche poetiſche indiſche Süſſigkeit hat die Flora Melitta und Pſyche. Der Aufſaz über die Freimäuerer iſt maueriſch, nämlich es wird ein Schleier von einem — Schleier abge- zogen; und das Licht raubt die poetiſche Schönheit der Myſterie nicht. Luthers Markknochen und die Zinzendorfiſche ganze Nummer haben 10 mich ſehr reich geſpeiſet. Gegen die Atlantis hab’ ich bei Seite 346 nur den Einwurf, — troz des jenenſiſchen wilden Jägers —, daß kein Staat und kein „Tribunal der Verſtändigen“ ein neues philo- ſophiſches, oder mediziniſches ꝛc. Syſtem erfinden, ſondern ſtets Ein Menſch. Sobald alſo alte, anfangs auch neue von 1 Men- 15 ſchen erfundne Syſteme gelehrt werden dürfen, 〈ſollen,〉 warum nicht auch neue von dem Erfinder ſelber, zumal da es in der Wiſſen- ſchaft keine Majorität giebt, obwohl in der wiſſenſchaftlichen Sit- lichkeit? — Man bewundert die Gelehrſamkeit des Buchs, weil man ihrer bei 20 andern nur in Einem Fache gewohnt iſt, nicht aber in ſo vielen. Da die Adraſtea eine Palingeneſie und Wiederbringung des 18. Sä- kulums iſt: ſo wil ich darin um ein Poſtament für einen groſſen Todten, den nordiſchen Uraniden nachſuchen, für den aus Sonnen beſtehenden Nebelflek — Haman. Herder iſt dies dieſem Lands- 25 und Geiſtes-Verwandten ſchuldig. Er begleite ſein Wort über ihn mit einigen Worten aus ihm, damit ein ſolches Polar Geſtirn nicht endlich hinter dem Gottesacker ſeiner Freunde verſchwinde. [245] Von mir weis ich nichts zu ſagen als daß wir alle blühen — be- ſonders ich — und daß ich Ende dieſer Woche mein Dintenfas in 30 Coburg aufſtelle. Der Herzog, den ich ſo bewegt verlaſſe als wär’ es mein Jugendfreund, bot mir Frei-Quartier, die Bezahlung der Bier- Frachten und die Anſchaffung beliebiger Bücher an, um mich als ein koſtbares Medaillon an ſeinem Halſe fortzubehalten. Aber er kan mich nur dankbarer, nicht irre machen. 35 Leben Sie recht froh dahin. Ich grüſſe alle. Geben Sie mir bald einige liebe Worte. Der lezte Brief von unſerm Herder an mich war

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:08:29Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:08:29Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe04_1960
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe04_1960/227
Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 4. Berlin, 1960, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe04_1960/227>, abgerufen am 09.05.2024.