Ich brauche nicht 10 Gassen, um meine Stube zu ertragen, ich bleibe in dieser und habe die Welt. Meine alten Argonautenzüge nach dem goldnen Vlies der Weiber haben sich in Kreuzzüge nach dem h. Grab der Männer verwandelt. Ich gehe kälter neuen Freundinnen ent- gegen -- und wärmer alten. -- Seine [Bouterweks?] poetische5 Flüssigkeit hat philosophische Ründung gewonnen.
223. An Matzdorff.
[Kopie][Meiningen, 5. Jan. 1802]
Ich lebe in hohen dichten Blumen fort.
224. An August Ferdinand Bernhardi in Berlin.10
Meiningen d. 5. Jenn. 1802.
An Sie dacht' ich immer, lieber Bernhardi. Manche Bücher waren mir Briefe von Ihnen, und manche Kapitel aus meinen meine an Sie. Ich wolte freilich, ich könte hier im Paradies der Liebe und der Natur, das ich jezt baue, ackere und geniesse, mit Ihnen disputierend auf und15 abgehen. Unsere Geister-Abende werden mir bleiben.
Ich arbeite hier in meinem dicken Bergwerk fort, ohne viel von andern Knappen zu hören. Den 3. Theil des Titans volendete ich eben; ich gewinne eine immer reinere Luft; Sie sollen mit ihm zu- frieden oder zufriedner sein. Was schreibt Tiek -- Sie -- Fr. Schlegel20 [140]-- Fichte? Ich weis gar nichts. -- Schüler von Ihnen allen schicken mir oft Mspte und ich helfe allen in die Welt, z. B. Kanne (oder anonym Bergius). Aber was die meisten -- z. B. Horn -- unrein macht,*) ist daß sie, anstat eine neue eigne Aera anzufangen aus ihrem Innersten und etwas darzustellen, blos die falschen Darstellungen dar-25 stellen und ihre ästhetischen Collegia versifizieren und so alle zusammen- kriechen in ein Betler-Lexikon von Klagen und Poesien über Gemein- heit, falsche Sentimental[ität], Schwäche etc. Sie streiten, stat zu zeugen; predigen Busse, anstat gute Werke zu thun. Daher die al- gemeine Aehnlichkeit ihres Stofs, die schon allein verdamt; jeder neue30 Dichter bringt frischen mit; die Form nicht, aber der Stof komt ewig neu individualisiert mit jedem genial[ischen] Individuum wieder.
*) Und doch solten Sie Brentano's kräftigen Godwi, den 2. Theil lesen.
Ich brauche nicht 10 Gaſſen, um meine Stube zu ertragen, ich bleibe in dieſer und habe die Welt. Meine alten Argonautenzüge nach dem goldnen Vlies der Weiber haben ſich in Kreuzzüge nach dem h. Grab der Männer verwandelt. Ich gehe kälter neuen Freundinnen ent- gegen — und wärmer alten. — Seine [Bouterweks?] poetiſche5 Flüſſigkeit hat philoſophiſche Ründung gewonnen.
223. An Matzdorff.
[Kopie][Meiningen, 5. Jan. 1802]
Ich lebe in hohen dichten Blumen fort.
224. An Auguſt Ferdinand Bernhardi in Berlin.10
Meiningen d. 5. Jenn. 1802.
An Sie dacht’ ich immer, lieber Bernhardi. Manche Bücher waren mir Briefe von Ihnen, und manche Kapitel aus meinen meine an Sie. Ich wolte freilich, ich könte hier im Paradies der Liebe und der Natur, das ich jezt baue, ackere und genieſſe, mit Ihnen diſputierend auf und15 abgehen. Unſere Geiſter-Abende werden mir bleiben.
Ich arbeite hier in meinem dicken Bergwerk fort, ohne viel von andern Knappen zu hören. Den 3. Theil des Titans volendete ich eben; ich gewinne eine immer reinere Luft; Sie ſollen mit ihm zu- frieden oder zufriedner ſein. Was ſchreibt Tiek — Sie — Fr. Schlegel20 [140]— Fichte? Ich weis gar nichts. — Schüler von Ihnen allen ſchicken mir oft Mſpte und ich helfe allen in die Welt, z. B. Kanne (oder anonym Bergius). Aber was die meiſten — z. B. Horn — unrein macht,*) iſt daß ſie, anſtat eine neue eigne Aera anzufangen aus ihrem Innerſten und etwas darzuſtellen, blos die falſchen Darſtellungen dar-25 ſtellen und ihre äſthetiſchen Collegia verſifizieren und ſo alle zuſammen- kriechen in ein Betler-Lexikon von Klagen und Poeſien über Gemein- heit, falſche Sentimental[ität], Schwäche ꝛc. Sie ſtreiten, ſtat zu zeugen; predigen Buſſe, anſtat gute Werke zu thun. Daher die al- gemeine Aehnlichkeit ihres Stofs, die ſchon allein verdamt; jeder neue30 Dichter bringt friſchen mit; die Form nicht, aber der Stof komt ewig neu individualiſiert mit jedem genial[iſchen] Individuum wieder.
*) Und doch ſolten Sie Brentano’s kräftigen Godwi, den 2. Theil leſen.
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Ich brauche nicht 10 Gaſſen, um meine Stube zu ertragen, ich bleibe
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der Männer verwandelt. Ich gehe kälter neuen Freundinnen ent-
gegen — und wärmer alten. — Seine [Bouterweks?] poetiſche 5
Flüſſigkeit hat philoſophiſche Ründung gewonnen.
223. An Matzdorff.
[Meiningen, 5. Jan. 1802]
Ich lebe in hohen dichten Blumen fort.
224. An Auguſt Ferdinand Bernhardi in Berlin. 10
Meiningen d. 5. Jenn. 1802.
An Sie dacht’ ich immer, lieber Bernhardi. Manche Bücher waren
mir Briefe von Ihnen, und manche Kapitel aus meinen meine an Sie.
Ich wolte freilich, ich könte hier im Paradies der Liebe und der Natur,
das ich jezt baue, ackere und genieſſe, mit Ihnen diſputierend auf und 15
abgehen. Unſere Geiſter-Abende werden mir bleiben.
Ich arbeite hier in meinem dicken Bergwerk fort, ohne viel von
andern Knappen zu hören. Den 3. Theil des Titans volendete ich
eben; ich gewinne eine immer reinere Luft; Sie ſollen mit ihm zu-
frieden oder zufriedner ſein. Was ſchreibt Tiek — Sie — Fr. Schlegel 20
— Fichte? Ich weis gar nichts. — Schüler von Ihnen allen ſchicken
mir oft Mſpte und ich helfe allen in die Welt, z. B. Kanne (oder
anonym Bergius). Aber was die meiſten — z. B. Horn — unrein
macht, *) iſt daß ſie, anſtat eine neue eigne Aera anzufangen aus ihrem
Innerſten und etwas darzuſtellen, blos die falſchen Darſtellungen dar- 25
ſtellen und ihre äſthetiſchen Collegia verſifizieren und ſo alle zuſammen-
kriechen in ein Betler-Lexikon von Klagen und Poeſien über Gemein-
heit, falſche Sentimental[ität], Schwäche ꝛc. Sie ſtreiten, ſtat zu
zeugen; predigen Buſſe, anſtat gute Werke zu thun. Daher die al-
gemeine Aehnlichkeit ihres Stofs, die ſchon allein verdamt; jeder neue 30
Dichter bringt friſchen mit; die Form nicht, aber der Stof komt ewig
neu individualiſiert mit jedem genial[iſchen] Individuum wieder.
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*) Und doch ſolten Sie Brentano’s kräftigen Godwi, den 2. Theil leſen.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:08:29Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:08:29Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 4. Berlin, 1960, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe04_1960/130>, abgerufen am 16.02.2025.
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