zens ansiehst. Glaube mir, so strömend ich gewöhnlich im Enthusiasmus die Leute ins Gesicht lobe ....
d. 10 April. (Ich fahre wie ein Wechselfieber erst nach 3 Tagen fort) -- so that ichs doch nie bei dir, weil du selber, gleichsam für den im Namen des andern bescheiden, nur ein pythagoräisches Karthausenlob5 ertheilst, und alle meine Aeusserungen sind nur Anfänge jener Aus- brüche, keine ganzen Ausbrüche .... Ich habe heute am Freitag 1000 Dinge vergessen, die ich am Sontag sagen wollen.
2. Eben diese Selbstkentnis oder Selbstverkentnis taugt wenig. Werfe dich in die Materie: so zieht sie dich von selber. Die Briefe -- nicht deine10 sondern alle -- sind blos deshalb besser als Bücher, weil dort die Bahn das Ziel ist und weil man über die schnel hinter einander aufspringenden kleinen Quellen (stat Eines Buch-Stromes) sich und seine Fahrzeuge vergisset. (Die Allegorie wil nicht passen)
3. Nego majorem et minorem. Ich vergleiche dich überhaupt nur15 mit dir, -- sonst wär' es leichter, dir den Tref-, Zier- und Spiesdank ohne Abzug zuzutheilen -- Aber weder im Vergessen noch im Andeuten des Planes scheinest du zu sündigen: sondern die Materie wird über dich oft Herr stat du über sie. Ich meine, weil du viele Gedanken erst unter dem Gebären zeugst: so mus dir -- wie es jedem, sogar dem erklärtesten20 Belletristen geht, der über Dinge schreibet, wo er nicht den Beobach- tungsgeist, die Erinnerung, die Gelehrsamkeit, sondern den Scharfsin zu Hülfe nehmen mus, der zugleich gebiert und zeugt -- die Art, wie sie dir das erstemal einfallen, die sein, wie sie dir aufs Papier entgleiten; jene Art aber modelt sich im Historischen immer nach der Art der historischen25 Quellen am leichtesten. Kurz in Briefen interessieren oder übermannen dich die schnel-abwechselnden Materien weniger; im Buche steht ein blendender Kolos von weissem Marmor vor dir, über dessen Besehen du das Bekleiden vergissest. Daher z. B. behalte ich weit mehr im 1 Theil, wo meine mikrokosmische Geschichte noch steter fliesset, zur30 Verzierung Kräfte, als im 3ten, wo sie mich mit schwemt. Aus dem- selben Grunde, aus demselben Verlieren in die Materie, ist es für viele schwerer, eine philosophische als eine leidenschaftliche Gedankenfolge[67] darzustellen. Jenem Verlieren aber entgehest du bei jeder 2ten Bearbei- tung derselben Sache.35
4. Ich hoffe, daß du damit nichts gesagt haben wilst; sonst verschwür' ichs, ein einziges kritisches Wort über deine Sachen zu sagen. Über-
zens anſiehſt. Glaube mir, ſo ſtrömend ich gewöhnlich im Enthuſiaſmus die Leute ins Geſicht lobe ....
d. 10 April. (Ich fahre wie ein Wechſelfieber erſt nach 3 Tagen fort) — ſo that ichs doch nie bei dir, weil du ſelber, gleichſam für den 〈im Namen des〉 andern beſcheiden, nur ein pythagoräiſches Karthauſenlob5 ertheilſt, und alle meine Aeuſſerungen ſind nur Anfänge jener Aus- brüche, keine ganzen Ausbrüche .... Ich habe heute am Freitag 1000 Dinge vergeſſen, die ich am Sontag ſagen wollen.
2. Eben dieſe Selbſtkentnis oder Selbſtverkentnis taugt wenig. Werfe dich in die Materie: ſo zieht ſie dich von ſelber. Die Briefe — nicht deine10 ſondern alle — ſind blos deshalb beſſer als Bücher, weil dort die Bahn das Ziel iſt und weil man über die ſchnel hinter einander aufſpringenden kleinen Quellen (ſtat Eines Buch-Stromes) ſich und ſeine Fahrzeuge vergiſſet. (Die Allegorie wil nicht paſſen)
3. Nego majorem et minorem. Ich vergleiche dich überhaupt nur15 mit dir, — ſonſt wär’ es leichter, dir den Tref-, Zier- und Spiesdank ohne Abzug zuzutheilen — Aber weder im Vergeſſen noch im Andeuten des Planes ſcheineſt du zu ſündigen: ſondern die Materie wird über dich oft Herr ſtat du über ſie. Ich meine, weil du viele Gedanken erſt unter dem Gebären zeugſt: ſo mus dir — wie es jedem, ſogar dem erklärteſten20 Belletriſten geht, der über Dinge ſchreibet, wo er nicht den Beobach- tungsgeiſt, die Erinnerung, die Gelehrſamkeit, ſondern den Scharfſin zu Hülfe nehmen mus, der zugleich gebiert und zeugt — die Art, wie ſie dir das erſtemal einfallen, die ſein, wie ſie dir aufs Papier entgleiten; jene Art aber modelt ſich im Hiſtoriſchen immer nach der Art der hiſtoriſchen25 Quellen am leichteſten. Kurz in Briefen intereſſieren oder übermannen dich die ſchnel-abwechſelnden Materien weniger; im Buche ſteht ein blendender Kolos von weiſſem Marmor vor dir, über deſſen Beſehen du das Bekleiden vergiſſeſt. Daher z. B. behalte ich weit mehr im 1 Theil, wo meine mikrokosmiſche Geſchichte noch ſteter flieſſet, zur30 Verzierung Kräfte, als im 3ten, wo ſie mich mit ſchwemt. Aus dem- ſelben Grunde, aus demſelben Verlieren in die Materie, iſt es für viele ſchwerer, eine philoſophiſche als eine leidenſchaftliche Gedankenfolge[67] darzuſtellen. Jenem Verlieren aber entgeheſt du bei jeder 2ten Bearbei- tung derſelben Sache.35
4. Ich hoffe, daß du damit nichts geſagt haben wilſt; ſonſt verſchwür’ ichs, ein einziges kritiſches Wort über deine Sachen zu ſagen. Über-
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zens anſiehſt. Glaube mir, ſo ſtrömend ich gewöhnlich im Enthuſiaſmus
die Leute ins Geſicht lobe ....
d. 10 April. (Ich fahre wie ein Wechſelfieber erſt nach 3 Tagen fort)
— ſo that ichs doch nie bei dir, weil du ſelber, gleichſam für den 〈im
Namen des〉 andern beſcheiden, nur ein pythagoräiſches Karthauſenlob 5
ertheilſt, und alle meine Aeuſſerungen ſind nur Anfänge jener Aus-
brüche, keine ganzen Ausbrüche .... Ich habe heute am Freitag
1000 Dinge vergeſſen, die ich am Sontag ſagen wollen.
2. Eben dieſe Selbſtkentnis oder Selbſtverkentnis taugt wenig. Werfe
dich in die Materie: ſo zieht ſie dich von ſelber. Die Briefe — nicht deine 10
ſondern alle — ſind blos deshalb beſſer als Bücher, weil dort die Bahn
das Ziel iſt und weil man über die ſchnel hinter einander aufſpringenden
kleinen Quellen (ſtat Eines Buch-Stromes) ſich und ſeine Fahrzeuge
vergiſſet. (Die Allegorie wil nicht paſſen)
3. Nego majorem et minorem. Ich vergleiche dich überhaupt nur 15
mit dir, — ſonſt wär’ es leichter, dir den Tref-, Zier- und Spiesdank
ohne Abzug zuzutheilen — Aber weder im Vergeſſen noch im Andeuten
des Planes ſcheineſt du zu ſündigen: ſondern die Materie wird über dich
oft Herr ſtat du über ſie. Ich meine, weil du viele Gedanken erſt unter
dem Gebären zeugſt: ſo mus dir — wie es jedem, ſogar dem erklärteſten 20
Belletriſten geht, der über Dinge ſchreibet, wo er nicht den Beobach-
tungsgeiſt, die Erinnerung, die Gelehrſamkeit, ſondern den Scharfſin zu
Hülfe nehmen mus, der zugleich gebiert und zeugt — die Art, wie ſie dir
das erſtemal einfallen, die ſein, wie ſie dir aufs Papier entgleiten; jene
Art aber modelt ſich im Hiſtoriſchen immer nach der Art der hiſtoriſchen 25
Quellen am leichteſten. Kurz in Briefen intereſſieren oder übermannen
dich die ſchnel-abwechſelnden Materien weniger; im Buche ſteht ein
blendender Kolos von weiſſem Marmor vor dir, über deſſen Beſehen
du das Bekleiden vergiſſeſt. Daher z. B. behalte ich weit mehr im
1 Theil, wo meine mikrokosmiſche Geſchichte noch ſteter flieſſet, zur 30
Verzierung Kräfte, als im 3ten, wo ſie mich mit ſchwemt. Aus dem-
ſelben Grunde, aus demſelben Verlieren in die Materie, iſt es für viele
ſchwerer, eine philoſophiſche als eine leidenſchaftliche Gedankenfolge
darzuſtellen. Jenem Verlieren aber entgeheſt du bei jeder 2ten Bearbei-
tung derſelben Sache. 35
[67]4. Ich hoffe, daß du damit nichts geſagt haben wilſt; ſonſt verſchwür’
ichs, ein einziges kritiſches Wort über deine Sachen zu ſagen. Über-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/82>, abgerufen am 07.07.2024.
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