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Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.

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[65]95. An Christian Otto.

Eine Lust nach der andern! Wenn, ich meine ob um 6, 7, 8, 9 Uhr er
kömt? Der Henker hat gerade meinen Samuel in Selbiz, daher ich dir
dein Buch erst gestern um 2 Uhr durch den Christoph schicken können.5
So ein Mensch ist Wernlein, eh' er sich hinsezt und schreibt, steht er
lieber auf und kömt.

96. An Christian Otto.

Während du drunten beim Alten vom Berge über mein Entlaufen10
zürnst: hab' ich erst deine radierten Blätter langsam überschauet.
(Nachmittags, im durstigen Zwischenraum zwischen Wein und Bier ist
drunten meines Bleibens nicht)

Du kanst Tagelang von dir reden, nur must du es nicht entschuldigen,
welches das einzige Fehlerhafte dabei ist. Man kan 1) ohne -- 2) mit15
Eitelkeit etc. von sich reden und schweigen: gute Menschen machen ihr
Ich zum Postament und Mahlergestelle des Universums und mahlen
aufs Individuum das Algemeine hinauf; -- andere kehren es um und
machen die Erdkugel zum Fusgestelle ihrer Winzigkeit und meinen --
wie die Franzosen, wenn sie man sagen -- unter den algemeinsten Be-20
hauptungen nur Sich. Da du bei deiner Selbstschäzung die fremde
nicht versehrest und in deiner keinen Fehler begehst als den, der dem
gewöhnlichen entgegengesezet ist: so schildere dich so lange du wilst; nur
tadl' es nicht. Beim Himmel! kan man denn aus seinem Ich heraus
und womit? Wir schämen uns ordentlich alle, nur eines zu haben und25
thun als wenn nur der andere ein Er haben dürfte: und der andere thut
wieder so und so gehts miserabel in der Welt -- Wenn wir einmal alles
fremde Gute achten: so wollen wir unsers auch achten -- und du
brauchst am allerwenigsten, und noch weniger gegen mich, um absolu-
tionem in articulo Ipsitatis
anzuhalten.30

Aber zur Sache, oder zur andern!

ad N. 1. Das ist wahrlich das Umgekehrte. Es schmerzet mich bitter,
daß du immer meinem Tadel die gröste Ausdehnung, und meinem Lobe
[66]die gröste Einschränkung ertheilst und jenen für entfahren und dieses
für wilkührlich, jenen für Urtheil des Kopfes, dieses für das des Her-35

[65]95. An Chriſtian Otto.

Eine Luſt nach der andern! Wenn, ich meine ob um 6, 7, 8, 9 Uhr er
kömt? Der Henker hat gerade meinen Samuel in Selbiz, daher ich dir
dein Buch erſt geſtern um 2 Uhr durch den Chriſtoph ſchicken können.5
So ein Menſch iſt Wernlein, eh’ er ſich hinſezt und ſchreibt, ſteht er
lieber auf und kömt.

96. An Chriſtian Otto.

Während du drunten beim Alten vom Berge über mein Entlaufen10
zürnſt: hab’ ich erſt deine radierten Blätter langſam überſchauet.
(Nachmittags, im durſtigen Zwiſchenraum zwiſchen Wein und Bier iſt
drunten meines Bleibens nicht)

Du kanſt Tagelang von dir reden, nur muſt du es nicht entſchuldigen,
welches das einzige Fehlerhafte dabei iſt. Man kan 1) ohne — 2) mit15
Eitelkeit ꝛc. von ſich reden und ſchweigen: gute Menſchen machen ihr
Ich zum Poſtament und Mahlergeſtelle des Univerſums und mahlen
aufs Individuum das Algemeine hinauf; — andere kehren es um und
machen die Erdkugel zum Fusgeſtelle ihrer Winzigkeit und meinen —
wie die Franzoſen, wenn ſie man ſagen — unter den algemeinſten Be-20
hauptungen nur Sich. Da du bei deiner Selbſtſchäzung die fremde
nicht verſehreſt und in deiner keinen Fehler begehſt als den, der dem
gewöhnlichen entgegengeſezet iſt: ſo ſchildere dich ſo lange du wilſt; nur
tadl’ es nicht. Beim Himmel! kan man denn aus ſeinem Ich heraus
und womit? Wir ſchämen uns ordentlich alle, nur eines zu haben und25
thun als wenn nur der andere ein Er haben dürfte: und der andere thut
wieder ſo und ſo gehts miſerabel in der Welt — Wenn wir einmal alles
fremde Gute achten: ſo wollen wir unſers auch achten — und du
brauchſt am allerwenigſten, und noch weniger gegen mich, um absolu-
tionem in articulo Ipsitatis
anzuhalten.30

Aber zur Sache, oder zur andern!

ad N. 1. Das iſt wahrlich das Umgekehrte. Es ſchmerzet mich bitter,
daß du immer meinem Tadel die gröſte Ausdehnung, und meinem Lobe
[66]die gröſte Einſchränkung ertheilſt und jenen für entfahren und dieſes
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[72/0081] 95. An Chriſtian Otto. [Hof, 9. April 1795] Eine Luſt nach der andern! Wenn, ich meine ob um 6, 7, 8, 9 Uhr er kömt? Der Henker hat gerade meinen Samuel in Selbiz, daher ich dir dein Buch erſt geſtern um 2 Uhr durch den Chriſtoph ſchicken können. 5 So ein Menſch iſt Wernlein, eh’ er ſich hinſezt und ſchreibt, ſteht er lieber auf und kömt. 96. An Chriſtian Otto. Hof. d. 7 Apr. 95 [Dienstag]. Während du drunten beim Alten vom Berge über mein Entlaufen 10 zürnſt: hab’ ich erſt deine radierten Blätter langſam überſchauet. (Nachmittags, im durſtigen Zwiſchenraum zwiſchen Wein und Bier iſt drunten meines Bleibens nicht) Du kanſt Tagelang von dir reden, nur muſt du es nicht entſchuldigen, welches das einzige Fehlerhafte dabei iſt. Man kan 1) ohne — 2) mit 15 Eitelkeit ꝛc. von ſich reden und ſchweigen: gute Menſchen machen ihr Ich zum Poſtament und Mahlergeſtelle des Univerſums und mahlen aufs Individuum das Algemeine hinauf; — andere kehren es um und machen die Erdkugel zum Fusgeſtelle ihrer Winzigkeit und meinen — wie die Franzoſen, wenn ſie man ſagen — unter den algemeinſten Be- 20 hauptungen nur Sich. Da du bei deiner Selbſtſchäzung die fremde nicht verſehreſt und in deiner keinen Fehler begehſt als den, der dem gewöhnlichen entgegengeſezet iſt: ſo ſchildere dich ſo lange du wilſt; nur tadl’ es nicht. Beim Himmel! kan man denn aus ſeinem Ich heraus und womit? Wir ſchämen uns ordentlich alle, nur eines zu haben und 25 thun als wenn nur der andere ein Er haben dürfte: und der andere thut wieder ſo und ſo gehts miſerabel in der Welt — Wenn wir einmal alles fremde Gute achten: ſo wollen wir unſers auch achten — und du brauchſt am allerwenigſten, und noch weniger gegen mich, um absolu- tionem in articulo Ipsitatis anzuhalten. 30 Aber zur Sache, oder zur andern! ad N. 1. Das iſt wahrlich das Umgekehrte. Es ſchmerzet mich bitter, daß du immer meinem Tadel die gröſte Ausdehnung, und meinem Lobe die gröſte Einſchränkung ertheilſt und jenen für entfahren und dieſes für wilkührlich, jenen für Urtheil des Kopfes, dieſes für das des Her- 35 [66]

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Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:02:06Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:02:06Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




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Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 72. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/81>, abgerufen am 04.05.2024.