um das Ganze zu versorgen. Es ist unsinnig, zu denken, daß die grossen Räder im Universum gehen werden, wenn der Schöpfer nur die Räder, und nicht auch die kleinsten Zähne daran machte. Wenn er nicht Kleinigkeiten besorgt: so besorgt er gar nichts; weil die Grösse nichts ist als eine grössere Anzahl Kleinigkeiten ...5
[45]-- Ich bitte nicht um Nachsicht für diesen Irsteig: in einem Briefe und in einer Visitte ist man an keine Paragraphenkette gebunden. Al- gemeine Wahrheiten müssen bei uns beiden die Stadtneuigkeiten sein; und wenn man diese ohne Ordnung sagen darf, warum nicht jene?
Was mir in Ihrem Tagebuch ausser dem philosophierenden Geiste10 darin so wol that, ist Ihre Toleranz mit allen Menschen, mit ihren Schwächen, mit fremden Schlägen, mit eignen Schmerzen.
In Ihrem schönen Briefe veranlasset mich eine einzige Anmerkung zu einer entgegengesezten -- diese, daß volkommen geborne Wesen schlechter sind als volkommen werdende d. h. sich bessernde. Ich15 glaube das Gegentheil. Gott selber ist, aber wird nicht heilig oder volkommen. Zweitens besteht die moralische Kraft so wenig in Be- siegung der unmoralischen, als die Gesundheit in der Bekämpfung der Krankheitsmaterie: sondern wie die Gesundheit am grösten ist ohne Anlas zum Bekämpfen, so ist Tugend ohne Anlas zu Siegen -- d. h.20 ohne Angriffe des Lasters, d. h. ohne anfallende kleine Laster -- am grösten. Je besser der Mensch wird, desto weniger hat er in sich zu bekämpfen, und der Neubekehrte hat gerade grössere Kriege, aber doch sicher nicht grössere Verdienste als der Tugend-Greis. Noch mehr: wenn angeborne moralische Kraft weniger Werth haben sol:25 so frag' ich, mit welcher andern als einer angebornen wird denn der Schwache über seine Versuchungen Herr? -- Das Verdienst, sich selber gar auszuschaffen, hat zwar der Schwache, aber der Engel hat es noch mehr: nur fängt dieser sein freiwilliges Steigen auf einer höhern Stufe, aber auch mit grössern Flügeln, an. Endlich wenn30 angeborne Tugendtriebe kein Lob verdienen: so verdienen auch an- geborne Lastertriebe keinen Tadel; und folglich wäre des Engels Gehorsam gegen jene und des Menschen Sieg über diese gleich unverdienstlich.
Der ganze Streit entspint sich aus dem grossen Räthsel, von dem35 selber Kant die Schreibfinger abzieht: "was macht, daß der Mensch gut wird, da man, um sein Wollen bessern zu wollen, ja schon eben
um das Ganze zu verſorgen. Es iſt unſinnig, zu denken, daß die groſſen Räder im Univerſum gehen werden, wenn der Schöpfer nur die Räder, und nicht auch die kleinſten Zähne daran machte. Wenn er nicht Kleinigkeiten beſorgt: ſo beſorgt er gar nichts; weil die Gröſſe nichts iſt als eine gröſſere Anzahl Kleinigkeiten ...5
[45]— Ich bitte nicht um Nachſicht für dieſen Irſteig: in einem Briefe und in einer Viſitte iſt man an keine Paragraphenkette gebunden. Al- gemeine Wahrheiten müſſen bei uns beiden die Stadtneuigkeiten ſein; und wenn man dieſe ohne Ordnung ſagen darf, warum nicht jene?
Was mir in Ihrem Tagebuch auſſer dem philoſophierenden Geiſte10 darin ſo wol that, iſt Ihre Toleranz mit allen Menſchen, mit ihren Schwächen, mit fremden Schlägen, mit eignen Schmerzen.
In Ihrem ſchönen Briefe veranlaſſet mich eine einzige Anmerkung zu einer entgegengeſezten — dieſe, daß volkommen geborne Weſen ſchlechter ſind als volkommen werdende d. h. ſich beſſernde. Ich15 glaube das Gegentheil. Gott ſelber iſt, aber wird nicht heilig oder volkommen. Zweitens beſteht die moraliſche Kraft ſo wenig in Be- ſiegung der unmoraliſchen, als die Geſundheit in der Bekämpfung der Krankheitsmaterie: ſondern wie die Geſundheit am gröſten iſt ohne Anlas zum Bekämpfen, ſo iſt Tugend ohne Anlas zu Siegen — d. h.20 ohne Angriffe des Laſters, d. h. ohne anfallende kleine Laſter — am gröſten. Je beſſer der Menſch wird, deſto weniger hat er in ſich zu bekämpfen, und der Neubekehrte hat gerade gröſſere Kriege, aber doch ſicher nicht gröſſere Verdienſte als der Tugend-Greis. Noch mehr: wenn angeborne moraliſche Kraft weniger Werth haben ſol:25 ſo frag’ ich, mit welcher andern als einer angebornen wird denn der Schwache über ſeine Verſuchungen Herr? — Das Verdienſt, ſich ſelber gar auszuſchaffen, hat zwar der Schwache, aber der Engel hat es noch mehr: nur fängt dieſer ſein freiwilliges Steigen auf einer höhern Stufe, aber auch mit gröſſern Flügeln, an. Endlich wenn30 angeborne Tugendtriebe kein Lob verdienen: ſo verdienen auch an- geborne Laſtertriebe keinen Tadel; und folglich wäre des Engels Gehorſam gegen jene und des Menſchen Sieg über dieſe gleich unverdienſtlich.
Der ganze Streit entſpint ſich aus dem groſſen Räthſel, von dem35 ſelber Kant die Schreibfinger abzieht: „was macht, daß der Menſch gut wird, da man, um ſein Wollen beſſern zu wollen, ja ſchon eben
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um das Ganze zu verſorgen. Es iſt unſinnig, zu denken, daß die groſſen
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Kleinigkeiten beſorgt: ſo beſorgt er gar nichts; weil die Gröſſe nichts
iſt als eine gröſſere Anzahl Kleinigkeiten ... 5
— Ich bitte nicht um Nachſicht für dieſen Irſteig: in einem Briefe
und in einer Viſitte iſt man an keine Paragraphenkette gebunden. Al-
gemeine Wahrheiten müſſen bei uns beiden die Stadtneuigkeiten ſein;
und wenn man dieſe ohne Ordnung ſagen darf, warum nicht jene?
[45]
Was mir in Ihrem Tagebuch auſſer dem philoſophierenden Geiſte 10
darin ſo wol that, iſt Ihre Toleranz mit allen Menſchen, mit ihren
Schwächen, mit fremden Schlägen, mit eignen Schmerzen.
In Ihrem ſchönen Briefe veranlaſſet mich eine einzige Anmerkung
zu einer entgegengeſezten — dieſe, daß volkommen geborne Weſen
ſchlechter ſind als volkommen werdende d. h. ſich beſſernde. Ich 15
glaube das Gegentheil. Gott ſelber iſt, aber wird nicht heilig oder
volkommen. Zweitens beſteht die moraliſche Kraft ſo wenig in Be-
ſiegung der unmoraliſchen, als die Geſundheit in der Bekämpfung
der Krankheitsmaterie: ſondern wie die Geſundheit am gröſten iſt ohne
Anlas zum Bekämpfen, ſo iſt Tugend ohne Anlas zu Siegen — d. h. 20
ohne Angriffe des Laſters, d. h. ohne anfallende kleine Laſter — am
gröſten. Je beſſer der Menſch wird, deſto weniger hat er in ſich zu
bekämpfen, und der Neubekehrte hat gerade gröſſere Kriege, aber
doch ſicher nicht gröſſere Verdienſte als der Tugend-Greis. Noch
mehr: wenn angeborne moraliſche Kraft weniger Werth haben ſol: 25
ſo frag’ ich, mit welcher andern als einer angebornen wird denn der
Schwache über ſeine Verſuchungen Herr? — Das Verdienſt, ſich
ſelber gar auszuſchaffen, hat zwar der Schwache, aber der Engel
hat es noch mehr: nur fängt dieſer ſein freiwilliges Steigen auf einer
höhern Stufe, aber auch mit gröſſern Flügeln, an. Endlich wenn 30
angeborne Tugendtriebe kein Lob verdienen: ſo verdienen auch an-
geborne Laſtertriebe keinen Tadel; und folglich wäre des Engels
Gehorſam gegen jene und des Menſchen Sieg über dieſe gleich
unverdienſtlich.
Der ganze Streit entſpint ſich aus dem groſſen Räthſel, von dem 35
ſelber Kant die Schreibfinger abzieht: „was macht, daß der Menſch
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 52. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/61>, abgerufen am 16.02.2025.
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