Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.

Bild:
<< vorherige Seite

Tugenden, aber auch Mängel -- himlische Tugenden gegen Aehnliche,
harte Mängel gegen Unähnliche und Kälte gegen die Pflichten des
Lebens, sobald sie von blosser Vernunft, nicht vom Enthusiasmus ge-
boten werden.

-- Ich habe überhaupt über die zunehmende Wundheit Ihres5
Innern, die alle glükliche Fügungen des Schiksals nie ausheilen
werden, und die die äussern Lagen sonst vermehrten, aber (jezt am
wenigsten) nicht erzeugten, lange nachgedacht, um Arzeneien zusammen-
zusezen, für die ich einmal ein längeres Blat bestimmen werde, wenn
Sie es wollen und ich es wage. --10

-- Aus diesem Raisonnement werden Sie nicht auf die tiefste Rüh-
rung schliessen können, mit der meine zerrissene Seele alle edle Thränen
der Ihrigen in sich strömen lies. Sie spalten gewaltsam das fremde
Herz und giessen Ihr edles Blut hinein. So schön sah ich sonst nie
Ihre weiche Seele und alles, was die Schläge des Schiksals an ihr15
geöfnet haben. Nichts thut mir wehe, als daß Ihr Blat nur von 4, stat
von 6 Augen gesehen wird. Aber wenn Sie mir auch die Bitte um eine
weitere Mittheilung verweigern: so kan ich doch noch in einem andern
Namen als meinem die Antwort auf die lezten Wünsche Ihres Blattes
geben: das Schiksal hat sie alle erfüllet und es wird ewig bleiben, weil20
alle auf der Tugend ruhende Freundschaft -- und nur diese -- ewig ist.
[35]Zerstöre dich nicht, beste Amöne, durch deine eignen Thränen, die wie
ich gewis weis, gestern dein ganzes Inneres, alle deine Nerven und
Ideen in einen einzigen, siedend um das Herz schwimmenden Strom
aufgelöset haben. Wenn ich mich wieder ändern wil: so schicke mir25
dieses Blat, und ich werde dich wieder kennen und alles vergeben. Ach
warum braucht es so wenig, um den andern zu quälen, und so viel,
um ihn zu beglücken? --

Immer und ewig und wieder von neuem

Ihr30
alter Freund
Richter
48. An Emanuel in Bayreuth.

Mein lieber Emanuel35

Nehmen Sie diesen Brief nur für den Anfang eines Briefs. Wir
müssen alle gewisse Abmarkungen am Ufer und Strome der Zeit an-

Tugenden, aber auch Mängel — himliſche Tugenden gegen Aehnliche,
harte Mängel gegen Unähnliche und Kälte gegen die Pflichten des
Lebens, ſobald ſie von bloſſer Vernunft, nicht vom Enthuſiaſmus ge-
boten werden.

— Ich habe überhaupt über die zunehmende Wundheit Ihres5
Innern, die alle glükliche Fügungen des Schikſals nie ausheilen
werden, und die die äuſſern Lagen ſonſt vermehrten, aber (jezt am
wenigſten) nicht erzeugten, lange nachgedacht, um Arzeneien zuſammen-
zuſezen, für die ich einmal ein längeres Blat beſtimmen werde, wenn
Sie es wollen und ich es wage. —10

— Aus dieſem Raiſonnement werden Sie nicht auf die tiefſte Rüh-
rung ſchlieſſen können, mit der meine zerriſſene Seele alle edle Thränen
der Ihrigen in ſich ſtrömen lies. Sie ſpalten gewaltſam das fremde
Herz und gieſſen Ihr edles Blut hinein. So ſchön ſah ich ſonſt nie
Ihre weiche Seele und alles, was die Schläge des Schikſals an ihr15
geöfnet haben. Nichts thut mir wehe, als daß Ihr Blat nur von 4, ſtat
von 6 Augen geſehen wird. Aber wenn Sie mir auch die Bitte um eine
weitere Mittheilung verweigern: ſo kan ich doch noch in einem andern
Namen als meinem die Antwort auf die lezten Wünſche Ihres Blattes
geben: das Schikſal hat ſie alle erfüllet und es wird ewig bleiben, weil20
alle auf der Tugend ruhende Freundſchaft — und nur dieſe — ewig iſt.
[35]Zerſtöre dich nicht, beſte Amöne, durch deine eignen Thränen, die wie
ich gewis weis, geſtern dein ganzes Inneres, alle deine Nerven und
Ideen in einen einzigen, ſiedend um das Herz ſchwimmenden Strom
aufgelöſet haben. Wenn ich mich wieder ändern wil: ſo ſchicke mir25
dieſes Blat, und ich werde dich wieder kennen und alles vergeben. Ach
warum braucht es ſo wenig, um den andern zu quälen, und ſo viel,
um ihn zu beglücken? —

Immer und ewig und wieder von neuem

Ihr30
alter Freund
Richter
48. An Emanuel in Bayreuth.

Mein lieber Emanuel35

Nehmen Sie dieſen Brief nur für den Anfang eines Briefs. Wir
müſſen alle gewiſſe Abmarkungen am Ufer und Strome der Zeit an-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter" n="1">
        <p><pb facs="#f0051" n="42"/>
Tugenden, aber auch Mängel &#x2014; himli&#x017F;che Tugenden gegen Aehnliche,<lb/>
harte Mängel gegen Unähnliche und Kälte gegen die Pflichten des<lb/>
Lebens, &#x017F;obald &#x017F;ie von blo&#x017F;&#x017F;er Vernunft, nicht vom Enthu&#x017F;ia&#x017F;mus ge-<lb/>
boten werden.</p><lb/>
        <p>&#x2014; Ich habe überhaupt über die zunehmende <hi rendition="#g">Wundheit</hi> Ihres<lb n="5"/>
Innern, die alle <hi rendition="#g">glükliche</hi> Fügungen des Schik&#x017F;als nie ausheilen<lb/>
werden, und die die äu&#x017F;&#x017F;ern Lagen &#x017F;on&#x017F;t vermehrten, aber (jezt am<lb/>
wenig&#x017F;ten) nicht erzeugten, lange nachgedacht, um Arzeneien zu&#x017F;ammen-<lb/>
zu&#x017F;ezen, für die ich einmal ein längeres Blat be&#x017F;timmen werde, wenn<lb/>
Sie es wollen und ich es wage. &#x2014;<lb n="10"/>
</p>
        <p>&#x2014; Aus die&#x017F;em Rai&#x017F;onnement werden Sie nicht auf die tief&#x017F;te Rüh-<lb/>
rung &#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;en können, mit der meine zerri&#x017F;&#x017F;ene Seele alle edle Thränen<lb/>
der Ihrigen in &#x017F;ich &#x017F;trömen lies. Sie &#x017F;palten gewalt&#x017F;am das fremde<lb/>
Herz und gie&#x017F;&#x017F;en Ihr edles Blut hinein. So &#x017F;chön &#x017F;ah ich &#x017F;on&#x017F;t nie<lb/>
Ihre weiche Seele und alles, was die Schläge des Schik&#x017F;als an ihr<lb n="15"/>
geöfnet haben. Nichts thut mir wehe, als daß Ihr Blat nur von 4, &#x017F;tat<lb/>
von 6 Augen ge&#x017F;ehen wird. Aber wenn Sie mir auch die Bitte um eine<lb/>
weitere Mittheilung verweigern: &#x017F;o kan ich doch noch in einem andern<lb/>
Namen als meinem die Antwort auf die lezten Wün&#x017F;che Ihres Blattes<lb/>
geben: das Schik&#x017F;al hat &#x017F;ie alle erfüllet und es wird ewig bleiben, weil<lb n="20"/>
alle auf der Tugend ruhende Freund&#x017F;chaft &#x2014; und nur die&#x017F;e &#x2014; ewig i&#x017F;t.<lb/><note place="left"><ref target="1922_Bd2_35">[35]</ref></note>Zer&#x017F;töre dich nicht, be&#x017F;te Amöne, durch deine eignen Thränen, die wie<lb/>
ich gewis weis, ge&#x017F;tern dein ganzes Inneres, alle deine Nerven und<lb/>
Ideen in einen einzigen, &#x017F;iedend um das Herz &#x017F;chwimmenden Strom<lb/>
aufgelö&#x017F;et haben. Wenn ich mich wieder ändern wil: &#x017F;o &#x017F;chicke mir<lb n="25"/>
die&#x017F;es Blat, und ich werde dich wieder kennen und alles vergeben. Ach<lb/>
warum braucht es &#x017F;o wenig, um den andern zu quälen, und &#x017F;o viel,<lb/>
um ihn zu beglücken? &#x2014;</p><lb/>
        <p>Immer und ewig und wieder von neuem</p><lb/>
        <closer>
          <salute> <hi rendition="#right">Ihr<lb n="30"/>
alter Freund<lb/>
Richter</hi> </salute>
        </closer>
      </div><lb/>
      <div type="letter" n="1">
        <head>48. An <hi rendition="#g">Emanuel in Bayreuth.</hi></head><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#right"><hi rendition="#aq">Hof d. 31 Dec.</hi> 94.</hi> </dateline><lb/>
        <opener>
          <salute> <hi rendition="#et">Mein lieber Emanuel<lb n="35"/>
</hi> </salute>
        </opener>
        <p>Nehmen Sie die&#x017F;en Brief nur für den Anfang eines Briefs. Wir<lb/>&#x017F;&#x017F;en alle gewi&#x017F;&#x017F;e Abmarkungen am Ufer und Strome der Zeit an-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[42/0051] Tugenden, aber auch Mängel — himliſche Tugenden gegen Aehnliche, harte Mängel gegen Unähnliche und Kälte gegen die Pflichten des Lebens, ſobald ſie von bloſſer Vernunft, nicht vom Enthuſiaſmus ge- boten werden. — Ich habe überhaupt über die zunehmende Wundheit Ihres 5 Innern, die alle glükliche Fügungen des Schikſals nie ausheilen werden, und die die äuſſern Lagen ſonſt vermehrten, aber (jezt am wenigſten) nicht erzeugten, lange nachgedacht, um Arzeneien zuſammen- zuſezen, für die ich einmal ein längeres Blat beſtimmen werde, wenn Sie es wollen und ich es wage. — 10 — Aus dieſem Raiſonnement werden Sie nicht auf die tiefſte Rüh- rung ſchlieſſen können, mit der meine zerriſſene Seele alle edle Thränen der Ihrigen in ſich ſtrömen lies. Sie ſpalten gewaltſam das fremde Herz und gieſſen Ihr edles Blut hinein. So ſchön ſah ich ſonſt nie Ihre weiche Seele und alles, was die Schläge des Schikſals an ihr 15 geöfnet haben. Nichts thut mir wehe, als daß Ihr Blat nur von 4, ſtat von 6 Augen geſehen wird. Aber wenn Sie mir auch die Bitte um eine weitere Mittheilung verweigern: ſo kan ich doch noch in einem andern Namen als meinem die Antwort auf die lezten Wünſche Ihres Blattes geben: das Schikſal hat ſie alle erfüllet und es wird ewig bleiben, weil 20 alle auf der Tugend ruhende Freundſchaft — und nur dieſe — ewig iſt. Zerſtöre dich nicht, beſte Amöne, durch deine eignen Thränen, die wie ich gewis weis, geſtern dein ganzes Inneres, alle deine Nerven und Ideen in einen einzigen, ſiedend um das Herz ſchwimmenden Strom aufgelöſet haben. Wenn ich mich wieder ändern wil: ſo ſchicke mir 25 dieſes Blat, und ich werde dich wieder kennen und alles vergeben. Ach warum braucht es ſo wenig, um den andern zu quälen, und ſo viel, um ihn zu beglücken? — [35] Immer und ewig und wieder von neuem Ihr 30 alter Freund Richter 48. An Emanuel in Bayreuth. Hof d. 31 Dec. 94. Mein lieber Emanuel 35 Nehmen Sie dieſen Brief nur für den Anfang eines Briefs. Wir müſſen alle gewiſſe Abmarkungen am Ufer und Strome der Zeit an-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:02:06Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:02:06Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/51
Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 42. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/51>, abgerufen am 02.05.2024.