Wolke und liebe Sie nach Ihrem Briefe noch wärmer; aber ich werde nicht gesehen: und nunmehr, da ein unbegreifliches Mis- verständnis uns verwundet, so schweig' ich bis wir uns sprechen über alles aus Furcht vor einem neuen, da ein briefliches sich leider erst durch die lange Post und nicht wie das mündliche durch Einen Blik5 auflöset.
-- Fischer und seine Frau -- eine Gräfin v. Reichenbach -- kamen aus Jena nach Hof zu mir, sahen aber (ich war noch in Bayreuth) nichts von mir als meine litterarische Farbenhütte und nahmen 2 Federn und 3 Blüten daraus mit. Otto hat mir die Frau sehr10 gelobt.
Ihre Schilderung von Weimar erinnert mich an meinen alten drückenden Gedanken: daß die aller-aller-wenigsten Menschen einen Lebensplan, obwohl Wochen-, Jahrs-, Jugend-, Geschäftsplane haben. Die Menschen sind auf ihrem Wege ohne Ziel und der Zufal,15 die Noth und die Begierde drängen sie an eines, und das nehmen sie für ihres: Goldstücke und Ehrenmedaillen ziehen den Menschen am längsten im Leben nieder und so stirbt der äussere, ohne daß der innere je flog. Die Dumpfheit der menschlichen Wünsche -- die Gleich- gültigkeit gegen innere Einigkeit -- die halb ungleiche halb zu-20 fällige Ausbildung der innern Glieder, deren eine Hälfte einem Riesen und deren andere einem Zwerge anpasset -- diese Dinge können mich, wenn ich sie lange betrachte, nicht blos traurig, sogar zaghaft machen. Auf die Kirchhöfe der ganzen Erde solte man die algemeine Grabschrift sezen: hier liegen die Wesen, die sonst nicht25 wusten was sie haben wolten.
d. 4. Okt.
Ich lies den Brief bis heute liegen, weil ich Ihnen erst heute die völlige Gewisheit schreiben konte, daß ich endlich ein Logis im blauen Engel in der Leipziger Petersstrasse habe: meine Abreise im30 November ist fest.
Solt' ich Ihnen aus Hof nicht mehr antworten -- wozu mich Erbschafts-, Ordnungs-, Reise- und Abschiedsplagen leicht zwingen könten -- so sezen Sie nur auf Ihren zweiten Brief "abzugeben bei Buchhändler Beygang".35
Leben Sie glüklicher als Ihr lezter Brief beweiset! Sie wissen nicht, wie ich Sie liebe. Der Abschied von allen lieblichen Verhältnissen[378]
Wolke und liebe Sie nach Ihrem Briefe noch wärmer; aber ich werde nicht geſehen: und nunmehr, da ein unbegreifliches Mis- verſtändnis uns verwundet, ſo ſchweig’ ich bis wir uns ſprechen über alles aus Furcht vor einem neuen, da ein briefliches ſich leider erſt durch die lange Poſt und nicht wie das mündliche durch Einen Blik5 auflöſet.
— Fiſcher und ſeine Frau — eine Gräfin v. Reichenbach — kamen aus Jena nach Hof zu mir, ſahen aber (ich war noch in Bayreuth) nichts von mir als meine litterariſche Farbenhütte und nahmen 2 Federn und 3 Blüten daraus mit. Otto hat mir die Frau ſehr10 gelobt.
Ihre Schilderung von Weimar erinnert mich an meinen alten drückenden Gedanken: daß die aller-aller-wenigſten Menſchen einen Lebensplan, obwohl Wochen-, Jahrs-, Jugend-, Geſchäftsplane haben. Die Menſchen ſind auf ihrem Wege ohne Ziel und der Zufal,15 die Noth und die Begierde drängen ſie an eines, und das nehmen ſie für ihres: Goldſtücke und Ehrenmedaillen ziehen den Menſchen am längſten im Leben nieder und ſo ſtirbt der äuſſere, ohne daß der innere je flog. Die Dumpfheit der menſchlichen Wünſche — die Gleich- gültigkeit gegen innere Einigkeit — die halb ungleiche halb zu-20 fällige Ausbildung der innern Glieder, deren eine Hälfte einem Rieſen und deren andere einem Zwerge anpaſſet — dieſe Dinge können mich, wenn ich ſie lange betrachte, nicht blos traurig, ſogar zaghaft machen. Auf die Kirchhöfe der ganzen Erde ſolte man die algemeine Grabſchrift ſezen: hier liegen die Weſen, die ſonſt nicht25 wuſten was ſie haben wolten.
d. 4. Okt.
Ich lies den Brief bis heute liegen, weil ich Ihnen erſt heute die völlige Gewisheit ſchreiben konte, daß ich endlich ein Logis im blauen Engel in der Leipziger Petersſtraſſe habe: meine Abreiſe im30 November iſt feſt.
Solt’ ich Ihnen aus Hof nicht mehr antworten — wozu mich Erbſchafts-, Ordnungs-, Reiſe- und Abſchiedsplagen leicht zwingen könten — ſo ſezen Sie nur auf Ihren zweiten Brief „abzugeben bei Buchhändler Beygang“.35
Leben Sie glüklicher als Ihr lezter Brief beweiſet! Sie wiſſen nicht, wie ich Sie liebe. Der Abſchied von allen lieblichen Verhältniſſen[378]
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Wolke und liebe Sie nach Ihrem Briefe noch wärmer; aber ich
werde nicht geſehen: und nunmehr, da ein unbegreifliches Mis-
verſtändnis uns verwundet, ſo ſchweig’ ich bis wir uns ſprechen über
alles aus Furcht vor einem neuen, da ein briefliches ſich leider erſt
durch die lange Poſt und nicht wie das mündliche durch Einen Blik 5
auflöſet.
— Fiſcher und ſeine Frau — eine Gräfin v. Reichenbach — kamen
aus Jena nach Hof zu mir, ſahen aber (ich war noch in Bayreuth)
nichts von mir als meine litterariſche Farbenhütte und nahmen
2 Federn und 3 Blüten daraus mit. Otto hat mir die Frau ſehr 10
gelobt.
Ihre Schilderung von Weimar erinnert mich an meinen alten
drückenden Gedanken: daß die aller-aller-wenigſten Menſchen einen
Lebensplan, obwohl Wochen-, Jahrs-, Jugend-, Geſchäftsplane
haben. Die Menſchen ſind auf ihrem Wege ohne Ziel und der Zufal, 15
die Noth und die Begierde drängen ſie an eines, und das nehmen ſie für
ihres: Goldſtücke und Ehrenmedaillen ziehen den Menſchen am
längſten im Leben nieder und ſo ſtirbt der äuſſere, ohne daß der innere
je flog. Die Dumpfheit der menſchlichen Wünſche — die Gleich-
gültigkeit gegen innere Einigkeit — die halb ungleiche halb zu- 20
fällige Ausbildung der innern Glieder, deren eine Hälfte einem
Rieſen und deren andere einem Zwerge anpaſſet — dieſe Dinge
können mich, wenn ich ſie lange betrachte, nicht blos traurig, ſogar
zaghaft machen. Auf die Kirchhöfe der ganzen Erde ſolte man die
algemeine Grabſchrift ſezen: hier liegen die Weſen, die ſonſt nicht 25
wuſten was ſie haben wolten.
d. 4. Okt.
Ich lies den Brief bis heute liegen, weil ich Ihnen erſt heute die
völlige Gewisheit ſchreiben konte, daß ich endlich ein Logis im
blauen Engel in der Leipziger Petersſtraſſe habe: meine Abreiſe im 30
November iſt feſt.
Solt’ ich Ihnen aus Hof nicht mehr antworten — wozu mich
Erbſchafts-, Ordnungs-, Reiſe- und Abſchiedsplagen leicht zwingen
könten — ſo ſezen Sie nur auf Ihren zweiten Brief „abzugeben bei
Buchhändler Beygang“. 35
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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 377. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/398>, abgerufen am 16.02.2025.
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