theilen diese Unsichtbarkeit und jene Liebe. Mögen Sie nie einen [371]härtern Schmerz auf der grossen dunkeln Bühne des Lebens erfahren als der Schauspieler auf der kleinen. Möge, wenn Ihnen irgend eine Sonne untergegangen, die Phantasie und die Dichtkunst die tiefen Stralen derselben auf irgend einem Mond sammeln und sie Ihnen5 glänzend in die Finsternis zurükwerfen.
Die schöne Natur verwandelt, eh' sie vom Winter verdrungen wird, alle Blüten in Früchte und Beere. Das Schiksal geb' Ihnen 100 Hofnungen und verwandle sie alle wie Blüten.
699. An Karoline Herold.10
[Kopie][Bayreuth, Mitte Sept. 1797]
Aus meinem Tag- und Abendbuch oder Stambuch der hiesigen Lebensspiele zieh' ich kein Blat für Sie heraus als eines, worauf ein Landschaftsgemälde ist -- Ich nenn' ihn -- es giebt 2erlei Aurickeln -- die gepuderte, mich die ungepuderte. Schwarzach wird von einer15 ital[ienischen] oder otah[eitischen] oder paradiesischen oder himlischen Gegend eingefasset. In einer solchen ruhenden Ebene, die ein Ruheplaz der Wünsche ist, über die sich eine Fruchtschnur aus schweren vol- geladenen Gipfeln als ein Gürtel der Berge, schwankend zieht und worauf Dörfer und Gärten einträchtig zusammen wohnen und wo die20 Nähe zur Ferne einlädt und diese zu jener gehört, in einem solchen grünen Tanzplaz froher Wünsche theilt das Herz vol Liebe gern alle seine unsichtbaren Gestalten unter die holden Pläze aus -- die er- wärmte Seele geht mit ihr verwandten dort auf die hellen Berge und hin am tiefgrünen Ufer -- und unter jeden Baum wird ein befreun-25 detes Herz geführt und überal aus allen blauen Himmelsecken und über alle blühende Pfade kommen auferstandene Träume der Jugend her und beschenken uns mit Hofnungen und das gestilte und bereicherte Auge braucht nun nichts mehr als blos sich -- abzutroknen. Die Flügel Ihres Innern tragen Sie in immer reinere Höhen, aber das30 Auge richte sich gegen die Erde wie die Flügel gegen den Himmel. Wie der Unendliche seine Ewigkeit und Unermeslichkeit und sein Ich be- schauet und doch die Sorge und Liebe der kleinen Erde vol Gewürm nicht vergisset: so ahm' ihm der kleine Mensch nach und er samle in seinem Herzen zugleich den Glanz der 2ten Welt und die Landkarte der35 ersten und vergesse über die Sonne den Fusboden nicht.
theilen dieſe Unſichtbarkeit und jene Liebe. Mögen Sie nie einen [371]härtern Schmerz auf der groſſen dunkeln Bühne des Lebens erfahren als der Schauſpieler auf der kleinen. Möge, wenn Ihnen irgend eine Sonne untergegangen, die Phantaſie und die Dichtkunſt die tiefen Stralen derſelben auf irgend einem Mond ſammeln und ſie Ihnen5 glänzend in die Finſternis zurükwerfen.
Die ſchöne Natur verwandelt, eh’ ſie vom Winter verdrungen wird, alle Blüten in Früchte und Beere. Das Schikſal geb’ Ihnen 100 Hofnungen und verwandle ſie alle wie Blüten.
699. An Karoline Herold.10
[Kopie][Bayreuth, Mitte Sept. 1797]
Aus meinem Tag- und Abendbuch oder Stambuch der hieſigen Lebensſpiele zieh’ ich kein Blat für Sie heraus als eines, worauf ein Landſchaftsgemälde iſt — Ich nenn’ ihn — es giebt 2erlei Aurickeln — die gepuderte, mich die ungepuderte. Schwarzach wird von einer15 ital[ieniſchen] oder otah[eitiſchen] oder paradieſiſchen oder himliſchen Gegend eingefaſſet. In einer ſolchen ruhenden Ebene, die ein Ruheplaz der Wünſche iſt, über die ſich eine Fruchtſchnur aus ſchweren vol- geladenen Gipfeln als ein Gürtel der Berge, ſchwankend zieht und worauf Dörfer und Gärten einträchtig zuſammen wohnen und wo die20 Nähe zur Ferne einlädt und dieſe zu jener gehört, in einem ſolchen grünen Tanzplaz froher Wünſche theilt das Herz vol Liebe gern alle ſeine unſichtbaren Geſtalten unter die holden Pläze aus — die er- wärmte Seele geht mit ihr verwandten dort auf die hellen Berge und hin am tiefgrünen Ufer — und unter jeden Baum wird ein befreun-25 detes Herz geführt und überal aus allen blauen Himmelsecken und über alle blühende Pfade kommen auferſtandene Träume der Jugend her und beſchenken uns mit Hofnungen und das geſtilte und bereicherte Auge braucht nun nichts mehr als blos ſich — abzutroknen. Die Flügel Ihres Innern tragen Sie in immer reinere Höhen, aber das30 Auge richte ſich gegen die Erde wie die Flügel gegen den Himmel. Wie der Unendliche ſeine Ewigkeit und Unermeslichkeit und ſein Ich be- ſchauet und doch die Sorge und Liebe der kleinen Erde vol Gewürm nicht vergiſſet: ſo ahm’ ihm der kleine Menſch nach und er ſamle in ſeinem Herzen zugleich den Glanz der 2ten Welt und die Landkarte der35 erſten und vergeſſe über die Sonne den Fusboden nicht.
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theilen dieſe Unſichtbarkeit und jene Liebe. Mögen Sie nie einen
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Sonne untergegangen, die Phantaſie und die Dichtkunſt die tiefen
Stralen derſelben auf irgend einem Mond ſammeln und ſie Ihnen 5
glänzend in die Finſternis zurükwerfen.
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Die ſchöne Natur verwandelt, eh’ ſie vom Winter verdrungen
wird, alle Blüten in Früchte und Beere. Das Schikſal geb’ Ihnen
100 Hofnungen und verwandle ſie alle wie Blüten.
699. An Karoline Herold. 10
[Bayreuth, Mitte Sept. 1797]
Aus meinem Tag- und Abendbuch oder Stambuch der hieſigen
Lebensſpiele zieh’ ich kein Blat für Sie heraus als eines, worauf ein
Landſchaftsgemälde iſt — Ich nenn’ ihn — es giebt 2erlei Aurickeln —
die gepuderte, mich die ungepuderte. Schwarzach wird von einer 15
ital[ieniſchen] oder otah[eitiſchen] oder paradieſiſchen oder himliſchen
Gegend eingefaſſet. In einer ſolchen ruhenden Ebene, die ein Ruheplaz
der Wünſche iſt, über die ſich eine Fruchtſchnur aus ſchweren vol-
geladenen Gipfeln als ein Gürtel der Berge, ſchwankend zieht und
worauf Dörfer und Gärten einträchtig zuſammen wohnen und wo die 20
Nähe zur Ferne einlädt und dieſe zu jener gehört, in einem ſolchen
grünen Tanzplaz froher Wünſche theilt das Herz vol Liebe gern alle
ſeine unſichtbaren Geſtalten unter die holden Pläze aus — die er-
wärmte Seele geht mit ihr verwandten dort auf die hellen Berge und
hin am tiefgrünen Ufer — und unter jeden Baum wird ein befreun- 25
detes Herz geführt und überal aus allen blauen Himmelsecken und über
alle blühende Pfade kommen auferſtandene Träume der Jugend her
und beſchenken uns mit Hofnungen und das geſtilte und bereicherte
Auge braucht nun nichts mehr als blos ſich — abzutroknen. Die
Flügel Ihres Innern tragen Sie in immer reinere Höhen, aber das 30
Auge richte ſich gegen die Erde wie die Flügel gegen den Himmel. Wie
der Unendliche ſeine Ewigkeit und Unermeslichkeit und ſein Ich be-
ſchauet und doch die Sorge und Liebe der kleinen Erde vol Gewürm
nicht vergiſſet: ſo ahm’ ihm der kleine Menſch nach und er ſamle in
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/393>, abgerufen am 25.11.2024.
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