Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958.

Bild:
<< vorherige Seite
676. An Friedrich von Oertel in Leipzig.

Mein Guter und Theuerer! Ich lege eben den Wanderstab aus der
Hand und nehme die Feder darein: ich komme von Franzenbad oder
vielmehr von der Fr. v. Berlepsch, bei der ich wohnte.5

Du hast vielleicht schon gelesen, daß das Geschik meine gute Mutter,
deren opferndes Herz ich ein wenig belohnen und erfreuen wolte, mit
einer langsamen stumpfen Sense von meiner Seele und von diesem
Leben abgeschnitten. Ach ich würd' ihr gern die Ruhe gönnen, hätte die
Arme sie früher gehabt, ohne das Grab. Nun mehr ist Hof düster, eng,10
und ein drückender umschliessender Schacht für mich: der ganze Frühling
und Sommer war, schon ohne die Wassersucht meiner Mutter, troz
meiner Entzückung im Titan, eine schwüle Steppe für mich.

[362]Ich gehe nach Leipzig in der Mitte des Novemb., schon weil mein
Bruder eine Universität
beziehen mus und weil Erfurt nichts hat15
als Einen <Dalberg>. Ich achte die Uneigennüzigkeit deines Vor-
schlags, aber ich kan es doch nicht ganz abscheulich finden, von dir und
deinem Glük nicht weiter entfernt zu sein als 1 Meile. Auch die Ber-
lepsch
zieht nach Leipzig. Ich habe nun im Leben Einer Woche mit ihr
zum 1 mal erfahren, daß es eine reine einfache bestimte weibliche Seele20
giebt, die einen bessernden Genus, ohne Eine Ecke gewährt und aus der
ich nichts wegverlangte: diese Emilie hat mich erhoben und ich sie.
Lieber Oertel, dringe stärker in ihre Geschichte und Seele und du findest
was ich zum erstenmale fand: so viele kühle Besonnenheit und Un-
sinlichkeit
bei einer idealischen Phantasie. Ich mag sie gar nicht loben:25
sie besucht dich in 14 Tagen und ihre geistigen Schleier werden, bei
ihrer enthusiastischen Liebe und Achtung für dich, leicht von ihren
Reizen zurükfallen.

Also lies mir eine Wohnung aus, Lieber: sie mus 1 erträgliche Stube
für mich, eine kleinere für meinen Bruder und Eine Schlafkammer für30
uns beide haben -- ferner kan sie in der Vorstadt und ohne Aussicht
sein (für etwa 30 rtl.) -- Rauch und Sonnenhize und besondere
Winterkälte darf sie nicht haben -- einige Möbeln (da ich mein Ge-
rümpel nicht gern so weit transportiere) und sogar die Gelegenheit, mit
oder von den Leuten im Hause zu essen, wären mir als ein Surrogat35
meiner eingebüsten Häuslichkeit erwünscht. Wilst du nicht suchen so
lass' es Beigang thun. Meine ewige Regel für lange fortwirkende Ent-

676. An Friedrich von Oertel in Leipzig.

Mein Guter und Theuerer! Ich lege eben den Wanderſtab aus der
Hand und nehme die Feder darein: ich komme von Franzenbad oder
vielmehr von der Fr. v. Berlepſch, bei der ich wohnte.5

Du haſt vielleicht ſchon geleſen, daß das Geſchik meine gute Mutter,
deren opferndes Herz ich ein wenig belohnen und erfreuen wolte, mit
einer langſamen ſtumpfen Senſe von meiner Seele und von dieſem
Leben abgeſchnitten. Ach ich würd’ ihr gern die Ruhe gönnen, hätte die
Arme ſie früher gehabt, ohne das Grab. Nun mehr iſt Hof düſter, eng,10
und ein drückender umſchlieſſender Schacht für mich: der ganze Frühling
und Sommer war, ſchon ohne die Waſſerſucht meiner Mutter, troz
meiner Entzückung im Titan, eine ſchwüle Steppe für mich.

[362]Ich gehe nach Leipzig in der Mitte des Novemb., ſchon weil mein
Bruder eine Univerſität
beziehen mus und weil Erfurt nichts hat15
als Einen <Dalberg>. Ich achte die Uneigennüzigkeit deines Vor-
ſchlags, aber ich kan es doch nicht ganz abſcheulich finden, von dir und
deinem Glük nicht weiter entfernt zu ſein als 1 Meile. Auch die Ber-
lepsch
zieht nach Leipzig. Ich habe nun im Leben Einer Woche mit ihr
zum 1 mal erfahren, daß es eine reine einfache beſtimte weibliche Seele20
giebt, die einen beſſernden Genus, ohne Eine Ecke gewährt und aus der
ich nichts wegverlangte: dieſe Emilie hat mich erhoben und ich ſie.
Lieber Oertel, dringe ſtärker in ihre Geſchichte und Seele und du findeſt
was ich zum erſtenmale fand: ſo viele kühle Beſonnenheit und Un-
ſinlichkeit
bei einer idealiſchen Phantaſie. Ich mag ſie gar nicht loben:25
ſie beſucht dich in 14 Tagen und ihre geiſtigen Schleier werden, bei
ihrer enthuſiaſtiſchen Liebe und Achtung für dich, leicht von ihren
Reizen zurükfallen.

Alſo lies mir eine Wohnung aus, Lieber: ſie mus 1 erträgliche Stube
für mich, eine kleinere für meinen Bruder und Eine Schlafkammer für30
uns beide haben — ferner kan ſie in der Vorſtadt und ohne Ausſicht
ſein (für etwa 30 rtl.) — Rauch und Sonnenhize und beſondere
Winterkälte darf ſie nicht haben — einige Möbeln (da ich mein Ge-
rümpel nicht gern ſo weit transportiere) und ſogar die Gelegenheit, mit
oder von den Leuten im Hauſe zu eſſen, wären mir als ein Surrogat35
meiner eingebüſten Häuslichkeit erwünſcht. Wilſt du nicht ſuchen ſo
laſſ’ es Beigang thun. Meine ewige Regel für lange fortwirkende Ent-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0377" n="360"/>
      <div type="letter" n="1">
        <head>676. An <hi rendition="#g">Friedrich von Oertel in Leipzig.</hi></head><lb/>
        <dateline> <hi rendition="#right"><hi rendition="#aq">Hof.</hi> 13. Aug. 97.</hi> </dateline><lb/>
        <p>Mein Guter und Theuerer! Ich lege eben den Wander&#x017F;tab aus der<lb/>
Hand und nehme die Feder darein: ich komme von Franzenbad oder<lb/>
vielmehr von der Fr. v. Berlep&#x017F;ch, bei der ich wohnte.<lb n="5"/>
</p>
        <p>Du ha&#x017F;t vielleicht &#x017F;chon gele&#x017F;en, daß das Ge&#x017F;chik meine gute Mutter,<lb/>
deren opferndes Herz ich ein wenig belohnen und erfreuen wolte, mit<lb/>
einer lang&#x017F;amen <hi rendition="#g">&#x017F;tumpfen</hi> Sen&#x017F;e von meiner Seele und von die&#x017F;em<lb/>
Leben abge&#x017F;chnitten. Ach ich würd&#x2019; ihr gern die Ruhe gönnen, hätte die<lb/>
Arme &#x017F;ie früher gehabt, ohne das Grab. Nun mehr i&#x017F;t <hi rendition="#aq">Hof</hi>&#x017F;ter, eng,<lb n="10"/>
und ein drückender um&#x017F;chlie&#x017F;&#x017F;ender Schacht für mich: der ganze Frühling<lb/>
und Sommer war, &#x017F;chon ohne die Wa&#x017F;&#x017F;er&#x017F;ucht meiner Mutter, troz<lb/>
meiner Entzückung im Titan, eine &#x017F;chwüle Steppe für mich.</p><lb/>
        <p><note place="left"><ref target="1922_Bd2_362">[362]</ref></note>Ich gehe nach Leipzig in der Mitte des Novemb., <hi rendition="#g">&#x017F;chon weil mein<lb/>
Bruder eine Univer&#x017F;ität</hi> beziehen mus und weil Erfurt nichts hat<lb n="15"/>
als Einen &lt;Dalberg&gt;. Ich achte die Uneigennüzigkeit deines Vor-<lb/>
&#x017F;chlags, aber ich kan es doch nicht ganz ab&#x017F;cheulich finden, von dir und<lb/>
deinem Glük nicht weiter entfernt zu &#x017F;ein als 1 Meile. Auch die <hi rendition="#aq">Ber-<lb/>
lepsch</hi> zieht nach Leipzig. Ich habe nun im Leben Einer Woche mit ihr<lb/>
zum 1 mal erfahren, daß es eine reine einfache be&#x017F;timte weibliche Seele<lb n="20"/>
giebt, die einen be&#x017F;&#x017F;ernden Genus, ohne Eine Ecke gewährt und aus der<lb/>
ich nichts wegverlangte: die&#x017F;e Emilie hat mich erhoben und ich &#x017F;ie.<lb/>
Lieber Oertel, dringe &#x017F;tärker in ihre Ge&#x017F;chichte und Seele und du finde&#x017F;t<lb/>
was ich zum <hi rendition="#g">er&#x017F;tenmale</hi> fand: &#x017F;o viele kühle Be&#x017F;onnenheit und <hi rendition="#b">Un-<lb/>
&#x017F;inlichkeit</hi> bei einer ideali&#x017F;chen Phanta&#x017F;ie. Ich mag &#x017F;ie gar nicht loben:<lb n="25"/>
&#x017F;ie be&#x017F;ucht dich in 14 Tagen und ihre gei&#x017F;tigen Schleier werden, bei<lb/>
ihrer enthu&#x017F;ia&#x017F;ti&#x017F;chen Liebe und Achtung für dich, leicht von ihren<lb/>
Reizen zurükfallen.</p><lb/>
        <p>Al&#x017F;o lies mir eine Wohnung aus, Lieber: &#x017F;ie mus 1 erträgliche Stube<lb/>
für mich, eine kleinere für meinen Bruder und Eine Schlafkammer für<lb n="30"/>
uns beide haben &#x2014; ferner kan &#x017F;ie in der Vor&#x017F;tadt und ohne Aus&#x017F;icht<lb/>
&#x017F;ein (für etwa 30 rtl.) &#x2014; Rauch und Sonnenhize und be&#x017F;ondere<lb/>
Winterkälte darf &#x017F;ie nicht haben &#x2014; einige Möbeln (da ich mein Ge-<lb/>
rümpel nicht gern &#x017F;o weit transportiere) und &#x017F;ogar die Gelegenheit, <hi rendition="#g">mit</hi><lb/>
oder <hi rendition="#g">von</hi> den Leuten im Hau&#x017F;e zu e&#x017F;&#x017F;en, wären mir als ein Surrogat<lb n="35"/>
meiner eingebü&#x017F;ten Häuslichkeit erwün&#x017F;cht. Wil&#x017F;t du nicht &#x017F;uchen &#x017F;o<lb/>
la&#x017F;&#x017F;&#x2019; es <hi rendition="#aq">Beigang</hi> thun. Meine ewige Regel für lange fortwirkende Ent-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[360/0377] 676. An Friedrich von Oertel in Leipzig. Hof. 13. Aug. 97. Mein Guter und Theuerer! Ich lege eben den Wanderſtab aus der Hand und nehme die Feder darein: ich komme von Franzenbad oder vielmehr von der Fr. v. Berlepſch, bei der ich wohnte. 5 Du haſt vielleicht ſchon geleſen, daß das Geſchik meine gute Mutter, deren opferndes Herz ich ein wenig belohnen und erfreuen wolte, mit einer langſamen ſtumpfen Senſe von meiner Seele und von dieſem Leben abgeſchnitten. Ach ich würd’ ihr gern die Ruhe gönnen, hätte die Arme ſie früher gehabt, ohne das Grab. Nun mehr iſt Hof düſter, eng, 10 und ein drückender umſchlieſſender Schacht für mich: der ganze Frühling und Sommer war, ſchon ohne die Waſſerſucht meiner Mutter, troz meiner Entzückung im Titan, eine ſchwüle Steppe für mich. Ich gehe nach Leipzig in der Mitte des Novemb., ſchon weil mein Bruder eine Univerſität beziehen mus und weil Erfurt nichts hat 15 als Einen <Dalberg>. Ich achte die Uneigennüzigkeit deines Vor- ſchlags, aber ich kan es doch nicht ganz abſcheulich finden, von dir und deinem Glük nicht weiter entfernt zu ſein als 1 Meile. Auch die Ber- lepsch zieht nach Leipzig. Ich habe nun im Leben Einer Woche mit ihr zum 1 mal erfahren, daß es eine reine einfache beſtimte weibliche Seele 20 giebt, die einen beſſernden Genus, ohne Eine Ecke gewährt und aus der ich nichts wegverlangte: dieſe Emilie hat mich erhoben und ich ſie. Lieber Oertel, dringe ſtärker in ihre Geſchichte und Seele und du findeſt was ich zum erſtenmale fand: ſo viele kühle Beſonnenheit und Un- ſinlichkeit bei einer idealiſchen Phantaſie. Ich mag ſie gar nicht loben: 25 ſie beſucht dich in 14 Tagen und ihre geiſtigen Schleier werden, bei ihrer enthuſiaſtiſchen Liebe und Achtung für dich, leicht von ihren Reizen zurükfallen. [362] Alſo lies mir eine Wohnung aus, Lieber: ſie mus 1 erträgliche Stube für mich, eine kleinere für meinen Bruder und Eine Schlafkammer für 30 uns beide haben — ferner kan ſie in der Vorſtadt und ohne Ausſicht ſein (für etwa 30 rtl.) — Rauch und Sonnenhize und beſondere Winterkälte darf ſie nicht haben — einige Möbeln (da ich mein Ge- rümpel nicht gern ſo weit transportiere) und ſogar die Gelegenheit, mit oder von den Leuten im Hauſe zu eſſen, wären mir als ein Surrogat 35 meiner eingebüſten Häuslichkeit erwünſcht. Wilſt du nicht ſuchen ſo laſſ’ es Beigang thun. Meine ewige Regel für lange fortwirkende Ent-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T15:02:06Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T15:02:06Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/377
Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/377>, abgerufen am 22.11.2024.