schönen Menschen geholet und daß du jede blumige Stätte einsam wieder betreten, die wir verknüpft durchzogen sind. Gieb mir die Freude der deinigen.
356. An Charlotte von Kalb in Weimar.
[Kopie][Hof, 11. Juli 1796]5
Über die 8 Tage kroch die Zeit mit kahlen nassen Flügeln ohne Schwungfedern. Ich kan meine Freundin nicht vergessen d. h. nicht entbehren ... Ich kan es nicht ertragen, ein Herz, das ich gern an meines fassen möchte, ohne körperliche Form in die ganze trans- parente Masse des Publikums verflossen zu wissen -- ich kan keine10 anonyme Liebe ertragen -- der Titan hat seine Raupenhülse zer- rissen. Nichts macht mich frömmer und milder als ein Fehltrit: ich hab' es nicht gewohnt, daß mein innerer Mensch sich eine Wunde stösset, und eben darum theilt ihm eine Verblutung ein neues sanftes Leben mit. Die Ferne heiligt die Seele und wärmet das Herz:15 ... wenn mein Auge wieder in deines sinken darf, wenn ich wieder aus dem meinigen die Thräne über dein Geschik vergiessen darf, die [221]aus dem deinigen nicht rint. Ich werde an deinem Geburtstag vor Sonnenuntergang auf einen Berg treten und nach der Sonne, die gerade in deine Gefilde niedersinkt, mit vollen Augen blicken und an20 dein Leben denken. Schau der fallenden glühenden Welt dan auch nach und wisse fest, daß ich an dich denke -- daß ich die Wolken deiner beschatteten Tage werde [?] zählen und vorüberfliegen lassen und daß ich alle deine heissen Schmerzen von neuem beweine. "O (werd' ich denken, wenn ich dein wundgeschäältes Herz in der Vergangenheit von25 einem Felsen auf den andern geworfen erblicke) o gutes Geschik, gieb dieser müden Seele nur jezt einmal eine weiche [?] grüne Stätte -- greife nur jezt nicht mehr hart zwischen dieses nur lose wieder zu- sammengeknüpfte Nervengewebe -- Bescheer' ihr Ruhe in ihrer Brust, einen sanften Lebensweg, den die schimmernden Gletscher der30 2ten Welt magisch begränzen, und lauter Menschen, die sie lieben, und Ruhe und Ruhe." -- Ich würde beredt sein (am Geburtstag), meine Zunge würde strömen wie mein Auge und von Wünschen überfliessen und wenn ich verstummend und beklommen auf die geliebte Hand hinsänke: so würde doch durch alle diese Ergüsse meine Brust nur voller ge-35 worden sein und nicht leichter. -- Ich Geist, der aus fremden Leibern
ſchönen Menſchen geholet und daß du jede blumige Stätte einſam wieder betreten, die wir verknüpft durchzogen ſind. Gieb mir die Freude der deinigen.
356. An Charlotte von Kalb in Weimar.
[Kopie][Hof, 11. Juli 1796]5
Über die 8 Tage kroch die Zeit mit kahlen naſſen Flügeln ohne Schwungfedern. Ich kan meine Freundin nicht vergeſſen d. h. nicht entbehren ... Ich kan es nicht ertragen, ein Herz, das ich gern an meines faſſen möchte, ohne körperliche Form in die ganze trans- parente Maſſe des Publikums verfloſſen zu wiſſen — ich kan keine10 anonyme Liebe ertragen — der Titan hat ſeine Raupenhülſe zer- riſſen. Nichts macht mich frömmer und milder als ein Fehltrit: ich hab’ es nicht gewohnt, daß mein innerer Menſch ſich eine Wunde ſtöſſet, und eben darum theilt ihm eine Verblutung ein neues ſanftes Leben mit. Die Ferne heiligt die Seele und wärmet das Herz:15 ... wenn mein Auge wieder in deines ſinken darf, wenn ich wieder aus dem meinigen die Thräne über dein Geſchik vergieſſen darf, die [221]aus dem deinigen nicht rint. Ich werde an deinem Geburtstag vor Sonnenuntergang auf einen Berg treten und nach der Sonne, die gerade in deine Gefilde niederſinkt, mit vollen Augen blicken und an20 dein Leben denken. Schau der fallenden glühenden Welt dan auch nach und wiſſe feſt, daß ich an dich denke — daß ich die Wolken deiner beſchatteten Tage werde [?] zählen und vorüberfliegen laſſen und daß ich alle deine heiſſen Schmerzen von neuem beweine. „O (werd’ ich denken, wenn ich dein wundgeſchäältes Herz in der Vergangenheit von25 einem Felſen auf den andern geworfen erblicke) o gutes Geſchik, gieb dieſer müden Seele nur jezt einmal eine weiche [?] grüne Stätte — greife nur jezt nicht mehr hart zwiſchen dieſes nur loſe wieder zu- ſammengeknüpfte Nervengewebe — Beſcheer’ ihr Ruhe in ihrer Bruſt, einen ſanften Lebensweg, den die ſchimmernden Gletſcher der30 2ten Welt magiſch begränzen, und lauter Menſchen, die ſie lieben, und Ruhe und Ruhe.“ — Ich würde beredt ſein (am Geburtstag), meine Zunge würde ſtrömen wie mein Auge und von Wünſchen überflieſſen und wenn ich verſtummend und beklommen auf die geliebte Hand hinſänke: ſo würde doch durch alle dieſe Ergüſſe meine Bruſt nur voller ge-35 worden ſein und nicht leichter. — Ich Geiſt, der aus fremden Leibern
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ſchönen Menſchen geholet und daß du jede blumige Stätte einſam
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Freude der deinigen.
356. An Charlotte von Kalb in Weimar.
[Hof, 11. Juli 1796] 5
Über die 8 Tage kroch die Zeit mit kahlen naſſen Flügeln ohne
Schwungfedern. Ich kan meine Freundin nicht vergeſſen d. h. nicht
entbehren ... Ich kan es nicht ertragen, ein Herz, das ich gern an
meines faſſen möchte, ohne körperliche Form in die ganze trans-
parente Maſſe des Publikums verfloſſen zu wiſſen — ich kan keine 10
anonyme Liebe ertragen — der Titan hat ſeine Raupenhülſe zer-
riſſen. Nichts macht mich frömmer und milder als ein Fehltrit: ich
hab’ es nicht gewohnt, daß mein innerer Menſch ſich eine Wunde
ſtöſſet, und eben darum theilt ihm eine Verblutung ein neues ſanftes
Leben mit. Die Ferne heiligt die Seele und wärmet das Herz: 15
... wenn mein Auge wieder in deines ſinken darf, wenn ich wieder
aus dem meinigen die Thräne über dein Geſchik vergieſſen darf, die
aus dem deinigen nicht rint. Ich werde an deinem Geburtstag vor
Sonnenuntergang auf einen Berg treten und nach der Sonne, die
gerade in deine Gefilde niederſinkt, mit vollen Augen blicken und an 20
dein Leben denken. Schau der fallenden glühenden Welt dan auch
nach und wiſſe feſt, daß ich an dich denke — daß ich die Wolken deiner
beſchatteten Tage werde [?] zählen und vorüberfliegen laſſen und daß
ich alle deine heiſſen Schmerzen von neuem beweine. „O (werd’ ich
denken, wenn ich dein wundgeſchäältes Herz in der Vergangenheit von 25
einem Felſen auf den andern geworfen erblicke) o gutes Geſchik, gieb
dieſer müden Seele nur jezt einmal eine weiche [?] grüne Stätte —
greife nur jezt nicht mehr hart zwiſchen dieſes nur loſe wieder zu-
ſammengeknüpfte Nervengewebe — Beſcheer’ ihr Ruhe in ihrer
Bruſt, einen ſanften Lebensweg, den die ſchimmernden Gletſcher der 30
2ten Welt magiſch begränzen, und lauter Menſchen, die ſie lieben, und
Ruhe und Ruhe.“ — Ich würde beredt ſein (am Geburtstag), meine
Zunge würde ſtrömen wie mein Auge und von Wünſchen überflieſſen und
wenn ich verſtummend und beklommen auf die geliebte Hand hinſänke:
ſo würde doch durch alle dieſe Ergüſſe meine Bruſt nur voller ge- 35
worden ſein und nicht leichter. — Ich Geiſt, der aus fremden Leibern
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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/236>, abgerufen am 24.11.2024.
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