Die Beschäftigungen mit den Wissenschaften und überhaupt mit grossen Gegenständen stellen uns die nahen Schmerzen einer liebe- siechen Seele zu geringfügig vor; aber es ist eine Täuschung: wir können die Schmerzen nicht nach den Marterinstrumenten ordnen und ob das Kriegsschwert tausend Herzen auf einmal oder ein Opfermesser5 eines von jenen allein zerschneidet, das ist für dieses einerlei Wunde. Das algemeine Unglük hat in seinen tausend Krallen doch nur allemal einzelne zerdrükte Herzen. --
Ich seze zu den Schilderungen ihres Tagebuchs keine dazu; jezt wirst du glauben, daß ihr gespantes trübes Aussehen in Geselschaften10 nicht verheimlichter kämpfender Grol sondern daß er das Zurükpressen der überwältigenden Rührung ist. -- Gieb mir deine Antwort wie du wilst, mündlich, schriftlich, schweigend; aber verzeih mir diese eiligen ohne Wage des Ausdruks hingeschriebnen Bogen -- Es war meine [I, 432]Pflicht: ich konte es nicht länger ansehen dieses almählige Versinken15 aus einem Schmerz in den andern, diese zergehende Erweichung des Herzens, in das jezt die Töne des Konzerts zu schmerzhaft tief ein- schneiden und das in allen Büchern nicht mehr die kleinste Aehnlichkeit mit seiner Geschichte aushält. -- Lebe wol, mein lieber Otto; ich hätte dir noch tausend Dinge zu schreiben, aber wenn du wilst, kanst20 du sie ja hören.
Richter
[I, 433]4. An Renate Wirth in Hof.
Hof d. 9 März 94 [Sonntag].
Blos um mich bei mir selber zu entschuldigen, -- weil ich innerlich Ihre Kälte einer bessern Ursache zuschrieb als der Laune --, büss' ich25 [I, 434]eine voreilige Sekunde mit einer langweiligen Kopier-Viertelstunde. Nie ist die Kälte schneidender als bei eigner Wärme. Wie gros die leztere bei mir gestern war, beweiset mein Brief, den ich wörtlich- treu aus seinen Ruinen kopiere.
Schwarzenbach d. 8 März 94.30
Theuerste Freundin
Ich wolte Ihnen heute für den SonnenUntergang Ihres Jahrs recht viel zubringen -- und bringe recht wenig, weil ich schon unter andern Anspannungen ermattet bin. Wenn aber irgend eine Bay- reuthische Minute zu mir trit und mir alle ihre Zaubertränke eingiebt35
Die Beſchäftigungen mit den Wiſſenſchaften und überhaupt mit groſſen Gegenſtänden ſtellen uns die nahen Schmerzen einer liebe- ſiechen Seele zu geringfügig vor; aber es iſt eine Täuſchung: wir können die Schmerzen nicht nach den Marterinſtrumenten ordnen und ob das Kriegsſchwert tauſend Herzen auf einmal oder ein Opfermeſſer5 eines von jenen allein zerſchneidet, das iſt für dieſes einerlei Wunde. Das algemeine Unglük hat in ſeinen tauſend Krallen doch nur allemal einzelne zerdrükte Herzen. —
Ich ſeze zu den Schilderungen ihres Tagebuchs keine dazu; jezt wirſt du glauben, daß ihr geſpantes trübes Ausſehen in Geſelſchaften10 nicht verheimlichter kämpfender Grol ſondern daß er das Zurükpreſſen der überwältigenden Rührung iſt. — Gieb mir deine Antwort wie du wilſt, mündlich, ſchriftlich, ſchweigend; aber verzeih mir dieſe eiligen ohne Wage des Ausdruks hingeſchriebnen Bogen — Es war meine [I, 432]Pflicht: ich konte es nicht länger anſehen dieſes almählige Verſinken15 aus einem Schmerz in den andern, dieſe zergehende Erweichung des Herzens, in das jezt die Töne des Konzerts zu ſchmerzhaft tief ein- ſchneiden und das in allen Büchern nicht mehr die kleinſte Aehnlichkeit mit ſeiner Geſchichte aushält. — Lebe wol, mein lieber Otto; ich hätte dir noch tauſend Dinge zu ſchreiben, aber wenn du wilſt, kanſt20 du ſie ja hören.
Richter
[I, 433]4. An Renate Wirth in Hof.
Hof d. 9 März 94 [Sonntag].
Blos um mich bei mir ſelber zu entſchuldigen, — weil ich innerlich Ihre Kälte einer beſſern Urſache zuſchrieb als der Laune —, büſſ’ ich25 [I, 434]eine voreilige Sekunde mit einer langweiligen Kopier-Viertelſtunde. Nie iſt die Kälte ſchneidender als bei eigner Wärme. Wie gros die leztere bei mir geſtern war, beweiſet mein Brief, den ich wörtlich- treu aus ſeinen Ruinen kopiere.
Schwarzenbach d. 8 März 94.30
Theuerſte Freundin
Ich wolte Ihnen heute für den SonnenUntergang Ihres Jahrs recht viel zubringen — und bringe recht wenig, weil ich ſchon unter andern Anſpannungen ermattet bin. Wenn aber irgend eine Bay- reuthiſche Minute zu mir trit und mir alle ihre Zaubertränke eingiebt35
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Die Beſchäftigungen mit den Wiſſenſchaften und überhaupt mit
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ſiechen Seele zu geringfügig vor; aber es iſt eine Täuſchung: wir
können die Schmerzen nicht nach den Marterinſtrumenten ordnen und
ob das Kriegsſchwert tauſend Herzen auf einmal oder ein Opfermeſſer 5
eines von jenen allein zerſchneidet, das iſt für dieſes einerlei Wunde.
Das algemeine Unglük hat in ſeinen tauſend Krallen doch nur allemal
einzelne zerdrükte Herzen. —
Ich ſeze zu den Schilderungen ihres Tagebuchs keine dazu; jezt
wirſt du glauben, daß ihr geſpantes trübes Ausſehen in Geſelſchaften 10
nicht verheimlichter kämpfender Grol ſondern daß er das Zurükpreſſen
der überwältigenden Rührung iſt. — Gieb mir deine Antwort wie du
wilſt, mündlich, ſchriftlich, ſchweigend; aber verzeih mir dieſe eiligen
ohne Wage des Ausdruks hingeſchriebnen Bogen — Es war meine
Pflicht: ich konte es nicht länger anſehen dieſes almählige Verſinken 15
aus einem Schmerz in den andern, dieſe zergehende Erweichung des
Herzens, in das jezt die Töne des Konzerts zu ſchmerzhaft tief ein-
ſchneiden und das in allen Büchern nicht mehr die kleinſte Aehnlichkeit
mit ſeiner Geſchichte aushält. — Lebe wol, mein lieber Otto; ich
hätte dir noch tauſend Dinge zu ſchreiben, aber wenn du wilſt, kanſt 20
du ſie ja hören.
[I, 432]Richter
4. An Renate Wirth in Hof.
Hof d. 9 März 94 [Sonntag].
Blos um mich bei mir ſelber zu entſchuldigen, — weil ich innerlich
Ihre Kälte einer beſſern Urſache zuſchrieb als der Laune —, büſſ’ ich 25
eine voreilige Sekunde mit einer langweiligen Kopier-Viertelſtunde.
Nie iſt die Kälte ſchneidender als bei eigner Wärme. Wie gros die
leztere bei mir geſtern war, beweiſet mein Brief, den ich wörtlich-
treu aus ſeinen Ruinen kopiere.
[I, 434]
Schwarzenbach d. 8 März 94. 30
Theuerſte Freundin
Ich wolte Ihnen heute für den SonnenUntergang Ihres Jahrs
recht viel zubringen — und bringe recht wenig, weil ich ſchon unter
andern Anſpannungen ermattet bin. Wenn aber irgend eine Bay-
reuthiſche Minute zu mir trit und mir alle ihre Zaubertränke eingiebt 35
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T15:02:06Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 2. Berlin, 1958, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe02_1958/13>, abgerufen am 07.07.2024.
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