[70]Sie sind nicht nur mein Freund, sondern Sie waren es auch. -- Meinem Vergnügen über Ihres gleicht nichts als der Anteil, den ich an Ihrem Schmerze über die Undankbarkeit Ihres Vaterlands neme. Mir ist immer (um offenherzig zu sein) das Sonderbare Ihres Schiksals aufgefallen -- die Natur, die bei Ihnen weder Kopf noch5 Herz vergas, vergas beides bei denen, mit denen Sie leben. Dieses Land verdient, daß Sie es verlassen; und Sie verdienen, daß Sie ein zehnmal besseres finden, ein Land, wo Sie der Priester nicht verfolgt, und der Arzt die Kollegen nicht beneidet; wo Ihren Kopf ein Gönner belont und Ihr Herz ein Freund liebt, der Ihrer Freundin10 gleicht. Ich bin von der Warheit Ihrer Gründe für Ihre Absicht so ser überzeuget, -- Übrigens halt' ich von der Liebe zum Vaterland nicht viel. Die Teologen erweisen die Gleichgültigkeit des Orts, wo man begraben wird, durch die Floskel: "die Erde ist des Hern"; ich möchte dieses auf den Ort anwenden, wo man geboren wird. Warum15 sol denn dies Stükgen Welt, über das mich meine Mutter 9 Monate als Embryon herumgetragen, mer Liebe verdienen, als der Flek, den ich viele Jare mit gewichsten Stiefeln betreten? Warum sol mir die Kindheit einen Aufenthalt mer veredeln als das mänliche Alter? Sol die Vaterlandsliebe unsern Freunden und Anverwandten gewidmet20 sein; so ist iedes Land mein Vaterland: denn überal findet man Freunde, oft merere und bessere, als man verläst. Auch müste sonach unsre Vaterlandsliebe auswandern oder sterben, wenn unsre Freunde aus- wandern oder sterben. Sie ist eine Sonne, deren Stralen der un- wissende Barbar anbetet, und der Professor der Optik zerspält.25 Klopfstok [!] mag allenfalls die Vaterlandsliebe besingen, und ein Schweizer sie hegen. Auch ists eine bekante Bemerkung, daß die Liebe eines Lands sich wenig mit seiner Aufklärung vertrage, und daß -- Ich werde nie ein Opfer und Bewoner des meinigen werden. Vor- züglich, da ich weder Teologie studire und keines Amts fähig bin; solten30 aber in der weiten Welt meiner satirischen Geisel törichte Rükken felen, so würd' ich auf Extrapost in mein geliebtes Vaterland hin- eilen. -- Eben diese Untreue an der Teologie macht mich unfähig, Ihr überaus gütiges Anerbieten zu etwas zu benüzen als zur Vermerung meiner Dankbarkeit.35
[71]Entschuldigen Sie beim Pfarrer in Rehau mein Stilschweigen [da- mit], womit ich die Feler dieses Briefes entschuldigen mus, mit der
[70]Sie ſind nicht nur mein Freund, ſondern Sie waren es auch. — Meinem Vergnügen über Ihres gleicht nichts als der Anteil, den ich an Ihrem Schmerze über die Undankbarkeit Ihres Vaterlands neme. Mir iſt immer (um offenherzig zu ſein) das Sonderbare Ihres Schikſals aufgefallen — die Natur, die bei Ihnen weder Kopf noch5 Herz vergas, vergas beides bei denen, mit denen Sie leben. Dieſes Land verdient, daß Sie es verlaſſen; und Sie verdienen, daß Sie ein zehnmal beſſeres finden, ein Land, wo Sie der Prieſter nicht verfolgt, und der Arzt 〈die Kollegen〉 nicht beneidet; wo Ihren Kopf ein Gönner belont und Ihr Herz ein Freund liebt, der Ihrer Freundin10 gleicht. Ich bin von der Warheit Ihrer Gründe für Ihre Abſicht ſo ſer überzeuget, — Übrigens halt’ ich von der Liebe zum Vaterland nicht viel. Die Teologen erweiſen die Gleichgültigkeit des Orts, wo man begraben wird, durch die Floſkel: „die Erde iſt des Hern“; ich möchte dieſes auf den Ort anwenden, wo man geboren wird. Warum15 ſol denn dies Stükgen Welt, über das mich meine Mutter 9 Monate als Embryon herumgetragen, mer Liebe verdienen, als der Flek, den ich viele Jare mit gewichſten Stiefeln betreten? Warum ſol mir die Kindheit einen Aufenthalt mer veredeln als das mänliche Alter? Sol die Vaterlandsliebe unſern Freunden und Anverwandten gewidmet20 ſein; ſo iſt iedes Land mein Vaterland: denn überal findet man Freunde, oft merere und beſſere, als man verläſt. Auch müſte ſonach unſre Vaterlandsliebe auswandern oder ſterben, wenn unſre Freunde aus- wandern oder ſterben. Sie iſt eine Sonne, deren Stralen der un- wiſſende Barbar anbetet, und der Profeſſor der Optik zerſpält.25 Klopfſtok [!] mag allenfalls die Vaterlandsliebe beſingen, und ein Schweizer ſie hegen. Auch iſts eine bekante Bemerkung, daß die Liebe eines Lands ſich wenig mit ſeiner Aufklärung vertrage, und daß — Ich werde nie ein Opfer und Bewoner des meinigen werden. Vor- züglich, da ich weder Teologie ſtudire und keines Amts fähig bin; ſolten30 aber in der weiten Welt meiner ſatiriſchen Geiſel törichte Rükken felen, ſo würd’ ich auf Extrapoſt in mein geliebtes Vaterland hin- eilen. — Eben dieſe Untreue an der Teologie macht mich unfähig, Ihr überaus gütiges Anerbieten zu etwas zu benüzen als zur Vermerung meiner Dankbarkeit.35
[71]Entſchuldigen Sie beim Pfarrer in Rehau mein Stilſchweigen [da- mit], womit ich die Feler dieſes Briefes entſchuldigen mus, mit der
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Sie ſind nicht nur mein Freund, ſondern Sie waren es auch. —
Meinem Vergnügen über Ihres gleicht nichts als der Anteil, den ich
an Ihrem Schmerze über die Undankbarkeit Ihres Vaterlands neme.
Mir iſt immer (um offenherzig zu ſein) das Sonderbare Ihres
Schikſals aufgefallen — die Natur, die bei Ihnen weder Kopf noch 5
Herz vergas, vergas beides bei denen, mit denen Sie leben. Dieſes
Land verdient, daß Sie es verlaſſen; und Sie verdienen, daß Sie ein
zehnmal beſſeres finden, ein Land, wo Sie der Prieſter nicht verfolgt,
und der Arzt 〈die Kollegen〉 nicht beneidet; wo Ihren Kopf ein
Gönner belont und Ihr Herz ein Freund liebt, der Ihrer Freundin 10
gleicht. Ich bin von der Warheit Ihrer Gründe für Ihre Abſicht ſo
ſer überzeuget, — Übrigens halt’ ich von der Liebe zum Vaterland
nicht viel. Die Teologen erweiſen die Gleichgültigkeit des Orts, wo
man begraben wird, durch die Floſkel: „die Erde iſt des Hern“; ich
möchte dieſes auf den Ort anwenden, wo man geboren wird. Warum 15
ſol denn dies Stükgen Welt, über das mich meine Mutter 9 Monate
als Embryon herumgetragen, mer Liebe verdienen, als der Flek, den
ich viele Jare mit gewichſten Stiefeln betreten? Warum ſol mir die
Kindheit einen Aufenthalt mer veredeln als das mänliche Alter? Sol
die Vaterlandsliebe unſern Freunden und Anverwandten gewidmet 20
ſein; ſo iſt iedes Land mein Vaterland: denn überal findet man Freunde,
oft merere und beſſere, als man verläſt. Auch müſte ſonach unſre
Vaterlandsliebe auswandern oder ſterben, wenn unſre Freunde aus-
wandern oder ſterben. Sie iſt eine Sonne, deren Stralen der un-
wiſſende Barbar anbetet, und der Profeſſor der Optik zerſpält. 25
Klopfſtok [!] mag allenfalls die Vaterlandsliebe beſingen, und ein
Schweizer ſie hegen. Auch iſts eine bekante Bemerkung, daß die Liebe
eines Lands ſich wenig mit ſeiner Aufklärung vertrage, und daß —
Ich werde nie ein Opfer und Bewoner des meinigen werden. Vor-
züglich, da ich weder Teologie ſtudire und keines Amts fähig bin; ſolten 30
aber in der weiten Welt meiner ſatiriſchen Geiſel törichte Rükken
felen, ſo würd’ ich auf Extrapoſt in mein geliebtes Vaterland hin-
eilen. — Eben dieſe Untreue an der Teologie macht mich unfähig, Ihr
überaus gütiges Anerbieten zu etwas zu benüzen als zur Vermerung
meiner Dankbarkeit. 35
[70] Entſchuldigen Sie beim Pfarrer in Rehau mein Stilſchweigen [da-
mit], womit ich die Feler dieſes Briefes entſchuldigen mus, mit der
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/87>, abgerufen am 23.11.2024.
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