Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956.

Bild:
<< vorherige Seite

gültigkeit angesehen, nie ihn als ein eingebildetes Gut betrachtet --
denn was ist warscheinlicher als daß wir in der Ewigkeit erst seine
besten und dau[erndsten] Früchte geniessen werden? Allein zu der Zeit,
da ich ienen Brief an Sie schrieb, war ich gerade durch den Tod des
Ernesti's, durch den Anblik seines Leichenpomps und durch die Ver-5
gleichung seines verg[angnen] und gegen[wärtigen] Zustandes, in die
Lage versezt worden, iene irrige Meinung zu behaupten. qui --

Aber vielleicht schäzt man an dem sel. Ernesti mer als man schäzzen
solte. Er sprach Zizero's Latein; aber ihm felte seine Beredsamkeit; er
hat gute lateinische Worte, aber nicht herliche Gedanken gehabt; er10
war erstaunlich gelert, bei mittelmässigen Kräften des Verstandes;
er hatte seinen Rum mer seinem Fleis, als seinem Genie, mer seinem
Gedächtnis, als seinem Tiefsin zu danken. Er war der gröste Philolog;
aber kein grosser Philosoph. Eben dieses macht ihn vielleicht nicht
halb so gros als einen Lessing, oder auch einen Platner. Sie wollen15
mir's zugeben, schreiben Sie, wenn ich Ihnen beweise, daß der Mensch
im künftigen Leben seine Erdensprache nicht mer habe. Das ist leicht
zu beweisen. 1) Wir haben denselben Körper, also dieselben
Sprachorgane nicht mer -- wir müsten in die andre Welt auch unsre
Oren mitbringen, und unsre Luft da wehen lassen. 2) Die Möglichkeit,20
andre durch Zeichen von unsern Gedanken zu unterrichten, schränkt sich
nicht auf die Sprache allein ein; es sind tausend Möglichkeiten, uns
den andern verständlich zu machen -- ich sehe also nicht ein, warum
wir die iezzige überal hinsezzen wollen. 3) Das Gedächtnis fält ganz
[30]weg. Unser Gehirn enthält unsre ganze Sprachkentnis; mit dem Alter25
wird sie geschwächt; und wo komt die Sprache nach [dem] Tode hin,
wo unser Wortbehältnis Würmer dafür aufbehält? 4) Was sol dem
unsre Sprache in der andern Welt? was sollen die Benennungen der
iezzigen Dinge für die Dinge, die wir nicht kennen? Der Himmel
müste ganz alle die Geschöpfe, die Gegenstände, die Beschaffenheit, die30
Laster und Tugenden, die politische und ph[ysische?] Beschaffenheit
unsrer Welt haben, um dort unsre Sprache zu haben. Wir werden
dort die Dinge nicht sehen, die wir hier sahen; und Dinge sehen, die
wir hier nicht sahen; wir werden unsre alte Sprache vergessen, und
eine neue brauchen müssen. Und was sollen denn die Völker im35
Himmel mit ihren Sprachen anfangen, die nur ein verwirtes Getön,
ein ... wie die [!] Und warlich, wenn [dies] auch zugestanden würde,

gültigkeit angeſehen, nie ihn als ein eingebildetes Gut betrachtet —
denn was iſt warſcheinlicher als daß wir in der Ewigkeit erſt ſeine
beſten und dau[erndſten] Früchte genieſſen werden? Allein zu der Zeit,
da ich ienen Brief an Sie ſchrieb, war ich gerade durch den Tod des
Erneſti’s, durch den Anblik ſeines Leichenpomps und durch die Ver-5
gleichung ſeines verg[angnen] und gegen[wärtigen] Zuſtandes, in die
Lage verſezt worden, iene irrige Meinung zu behaupten. qui

Aber vielleicht ſchäzt man an dem ſel. Erneſti mer als man ſchäzzen
ſolte. Er ſprach Zizero’s Latein; aber ihm felte ſeine Beredſamkeit; er
hat gute lateiniſche Worte, aber nicht herliche Gedanken gehabt; er10
war erſtaunlich gelert, bei mittelmäſſigen Kräften des Verſtandes;
er hatte ſeinen Rum mer ſeinem Fleis, als ſeinem Genie, mer ſeinem
Gedächtnis, als ſeinem Tiefſin zu danken. Er war der gröſte Philolog;
aber kein groſſer Philoſoph. Eben dieſes macht ihn vielleicht nicht
halb ſo gros als einen Leſſing, oder auch einen Platner. Sie wollen15
mir’s zugeben, ſchreiben Sie, wenn ich Ihnen beweiſe, daß der Menſch
im künftigen Leben ſeine Erdenſprache nicht mer habe. Das iſt leicht
zu beweiſen. 1) Wir haben denſelben Körper, alſo dieſelben
Sprachorgane nicht mer — wir müſten in die andre Welt auch unſre
Oren mitbringen, und unſre Luft da wehen laſſen. 2) Die Möglichkeit,20
andre durch Zeichen von unſern Gedanken zu unterrichten, ſchränkt ſich
nicht auf die Sprache allein ein; es ſind tauſend Möglichkeiten, uns
den andern verſtändlich zu machen — ich ſehe alſo nicht ein, warum
wir die iezzige überal hinſezzen wollen. 3) Das Gedächtnis fält ganz
[30]weg. Unſer Gehirn enthält unſre ganze Sprachkentnis; mit dem Alter25
wird ſie geſchwächt; und wo komt die Sprache nach [dem] Tode hin,
wo unſer Wortbehältnis Würmer dafür aufbehält? 4) Was ſol dem
unſre Sprache in der andern Welt? was ſollen die Benennungen der
iezzigen Dinge für die Dinge, die wir nicht kennen? Der Himmel
müſte ganz alle die Geſchöpfe, die Gegenſtände, die Beſchaffenheit, die30
Laſter und Tugenden, die politiſche und ph[yſiſche?] Beſchaffenheit
unſrer Welt haben, um dort unſre Sprache zu haben. Wir werden
dort die Dinge nicht ſehen, die wir hier ſahen; und Dinge ſehen, die
wir hier nicht ſahen; wir werden unſre alte Sprache vergeſſen, und
eine neue brauchen müſſen. Und was ſollen denn die Völker im35
Himmel mit ihren Sprachen anfangen, die nur ein verwirtes Getön,
ein … wie die [!] Und warlich, wenn [dies] auch zugeſtanden würde,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div type="letter" n="1">
        <p><pb facs="#f0051" n="28"/>
gültigkeit ange&#x017F;ehen, nie ihn als ein eingebildetes Gut betrachtet &#x2014;<lb/>
denn was i&#x017F;t war&#x017F;cheinlicher als daß wir in der Ewigkeit er&#x017F;t &#x017F;eine<lb/>
be&#x017F;ten und dau<metamark>[</metamark>ernd&#x017F;ten<metamark>]</metamark> Früchte genie&#x017F;&#x017F;en werden? Allein zu der Zeit,<lb/>
da ich ienen Brief an Sie &#x017F;chrieb, war ich gerade durch den Tod des<lb/>
Erne&#x017F;ti&#x2019;s, durch den Anblik &#x017F;eines Leichenpomps und durch die Ver-<lb n="5"/>
gleichung &#x017F;eines verg<metamark>[</metamark>angnen<metamark>]</metamark> und gegen<metamark>[</metamark>wärtigen<metamark>]</metamark> Zu&#x017F;tandes, in die<lb/>
Lage ver&#x017F;ezt worden, iene irrige Meinung zu behaupten. <hi rendition="#aq">qui</hi> &#x2014;</p><lb/>
        <p>Aber vielleicht &#x017F;chäzt man an dem &#x017F;el. Erne&#x017F;ti mer als man &#x017F;chäzzen<lb/>
&#x017F;olte. Er &#x017F;prach Zizero&#x2019;s Latein; aber ihm felte &#x017F;eine Bered&#x017F;amkeit; er<lb/>
hat gute lateini&#x017F;che Worte, aber nicht herliche Gedanken gehabt; er<lb n="10"/>
war er&#x017F;taunlich gelert, bei mittelmä&#x017F;&#x017F;igen Kräften des Ver&#x017F;tandes;<lb/>
er hatte &#x017F;einen Rum mer &#x017F;einem Fleis, als &#x017F;einem Genie, mer &#x017F;einem<lb/>
Gedächtnis, als &#x017F;einem Tief&#x017F;in zu danken. Er war der grö&#x017F;te Philolog;<lb/>
aber kein gro&#x017F;&#x017F;er Philo&#x017F;oph. Eben die&#x017F;es macht ihn vielleicht nicht<lb/>
halb &#x017F;o gros als einen Le&#x017F;&#x017F;ing, oder auch einen Platner. Sie wollen<lb n="15"/>
mir&#x2019;s zugeben, &#x017F;chreiben Sie, wenn ich Ihnen bewei&#x017F;e, daß der Men&#x017F;ch<lb/>
im künftigen Leben &#x017F;eine Erden&#x017F;prache nicht mer habe. Das i&#x017F;t leicht<lb/>
zu bewei&#x017F;en. 1) Wir haben <hi rendition="#g">den&#x017F;elben</hi> Körper, al&#x017F;o <hi rendition="#g">die&#x017F;elben</hi><lb/>
Sprachorgane nicht mer &#x2014; wir mü&#x017F;ten in die andre Welt auch un&#x017F;re<lb/>
Oren mitbringen, und un&#x017F;re Luft da wehen la&#x017F;&#x017F;en. 2) Die Möglichkeit,<lb n="20"/>
andre durch Zeichen von un&#x017F;ern Gedanken zu unterrichten, &#x017F;chränkt &#x017F;ich<lb/>
nicht auf die Sprache allein ein; es &#x017F;ind tau&#x017F;end Möglichkeiten, uns<lb/>
den andern ver&#x017F;tändlich zu machen &#x2014; ich &#x017F;ehe al&#x017F;o nicht ein, warum<lb/>
wir die iezzige überal hin&#x017F;ezzen wollen. 3) Das Gedächtnis fält ganz<lb/><note place="left"><ref target="1922_Bd#_30">[30]</ref></note>weg. Un&#x017F;er Gehirn enthält un&#x017F;re ganze Sprachkentnis; mit dem Alter<lb n="25"/>
wird &#x017F;ie ge&#x017F;chwächt; und wo komt die Sprache nach <metamark>[</metamark>dem<metamark>]</metamark> Tode hin,<lb/>
wo un&#x017F;er Wortbehältnis Würmer dafür aufbehält? 4) Was &#x017F;ol dem<lb/>
un&#x017F;re Sprache in der andern Welt? was &#x017F;ollen die Benennungen der<lb/>
iezzigen Dinge für die Dinge, die wir nicht kennen? Der Himmel<lb/>&#x017F;te ganz alle die Ge&#x017F;chöpfe, die Gegen&#x017F;tände, die Be&#x017F;chaffenheit, die<lb n="30"/>
La&#x017F;ter und Tugenden, die politi&#x017F;che und ph<metamark>[</metamark>y&#x017F;i&#x017F;che?<metamark>]</metamark> Be&#x017F;chaffenheit<lb/>
un&#x017F;rer Welt haben, um dort un&#x017F;re Sprache zu haben. Wir werden<lb/>
dort die Dinge nicht &#x017F;ehen, die wir hier &#x017F;ahen; und Dinge &#x017F;ehen, die<lb/>
wir hier nicht &#x017F;ahen; wir werden un&#x017F;re alte Sprache verge&#x017F;&#x017F;en, und<lb/>
eine neue brauchen mü&#x017F;&#x017F;en. Und was &#x017F;ollen denn die Völker im<lb n="35"/>
Himmel mit ihren Sprachen anfangen, die nur ein verwirtes Getön,<lb/>
ein &#x2026; wie die <metamark>[</metamark>!<metamark>]</metamark> Und warlich, wenn <metamark>[</metamark>dies<metamark>]</metamark> auch zuge&#x017F;tanden würde,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[28/0051] gültigkeit angeſehen, nie ihn als ein eingebildetes Gut betrachtet — denn was iſt warſcheinlicher als daß wir in der Ewigkeit erſt ſeine beſten und dau[erndſten] Früchte genieſſen werden? Allein zu der Zeit, da ich ienen Brief an Sie ſchrieb, war ich gerade durch den Tod des Erneſti’s, durch den Anblik ſeines Leichenpomps und durch die Ver- 5 gleichung ſeines verg[angnen] und gegen[wärtigen] Zuſtandes, in die Lage verſezt worden, iene irrige Meinung zu behaupten. qui — Aber vielleicht ſchäzt man an dem ſel. Erneſti mer als man ſchäzzen ſolte. Er ſprach Zizero’s Latein; aber ihm felte ſeine Beredſamkeit; er hat gute lateiniſche Worte, aber nicht herliche Gedanken gehabt; er 10 war erſtaunlich gelert, bei mittelmäſſigen Kräften des Verſtandes; er hatte ſeinen Rum mer ſeinem Fleis, als ſeinem Genie, mer ſeinem Gedächtnis, als ſeinem Tiefſin zu danken. Er war der gröſte Philolog; aber kein groſſer Philoſoph. Eben dieſes macht ihn vielleicht nicht halb ſo gros als einen Leſſing, oder auch einen Platner. Sie wollen 15 mir’s zugeben, ſchreiben Sie, wenn ich Ihnen beweiſe, daß der Menſch im künftigen Leben ſeine Erdenſprache nicht mer habe. Das iſt leicht zu beweiſen. 1) Wir haben denſelben Körper, alſo dieſelben Sprachorgane nicht mer — wir müſten in die andre Welt auch unſre Oren mitbringen, und unſre Luft da wehen laſſen. 2) Die Möglichkeit, 20 andre durch Zeichen von unſern Gedanken zu unterrichten, ſchränkt ſich nicht auf die Sprache allein ein; es ſind tauſend Möglichkeiten, uns den andern verſtändlich zu machen — ich ſehe alſo nicht ein, warum wir die iezzige überal hinſezzen wollen. 3) Das Gedächtnis fält ganz weg. Unſer Gehirn enthält unſre ganze Sprachkentnis; mit dem Alter 25 wird ſie geſchwächt; und wo komt die Sprache nach [dem] Tode hin, wo unſer Wortbehältnis Würmer dafür aufbehält? 4) Was ſol dem unſre Sprache in der andern Welt? was ſollen die Benennungen der iezzigen Dinge für die Dinge, die wir nicht kennen? Der Himmel müſte ganz alle die Geſchöpfe, die Gegenſtände, die Beſchaffenheit, die 30 Laſter und Tugenden, die politiſche und ph[yſiſche?] Beſchaffenheit unſrer Welt haben, um dort unſre Sprache zu haben. Wir werden dort die Dinge nicht ſehen, die wir hier ſahen; und Dinge ſehen, die wir hier nicht ſahen; wir werden unſre alte Sprache vergeſſen, und eine neue brauchen müſſen. Und was ſollen denn die Völker im 35 Himmel mit ihren Sprachen anfangen, die nur ein verwirtes Getön, ein … wie die [!] Und warlich, wenn [dies] auch zugeſtanden würde, [30]

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription. (2016-11-22T14:52:17Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition. (2016-11-22T14:52:17Z)

Weitere Informationen:

Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).

Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/51
Zitationshilfe: Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/51>, abgerufen am 21.11.2024.