ganzes persönliches Tun und Lassen seinem Schriftstellerberufe dienst- bar machte, waren auch Privatbriefe für ihn nur Vorübungen und Konzepte für seine offenen Schreiben ans Publikum. So gewiß dem so ist, so verkehrt und ungerecht wäre es, seinen Briefen deshalb Auf- richtigkeit und Wahrhaftigkeit abzusprechen. Diesem merkwürdigen Menschen war eben Kunst zur zweiten Natur, Dichten zum Leben, Bewußtheit zum Instinkt geworden; es ist der Schlüssel zu seinem Wesen, zu begreifen, daß diese Gegensätze für ihn keine waren. Über- haupt spielte sich ja sein Leben in einem selbst für die damalige schreib- selige Zeit ungewöhnlichen Grade auf dem Papier und besonders auf dem Briefpapier ab. Hat er doch an Freunde, von denen ihn nur eine Wand oder eine Gassenbreite trennte, nicht nur zahllose Billette, sondern nicht selten lange Briefe geschrieben, ja seiner Frau zuweilen, ohne abwesend zu sein, schriftlich zum Geburtstag gratuliert. Zu seinen Lieblingsideen gehörte eine Gesellschaft, die, um einen Tisch sitzend, statt Gesprächen Briefe wechselt1). Seine Briefe lassen denn auch sein Leben in einer Vollständigkeit wiedererstehen, wie es in unserer fern- sprechenden Zeit niemals möglich wäre.
In meinen 1927 in den Abhandlungen der Preußischen Akademie der Wissenschaften erschienenen "Prolegomena zur historisch-kritischen Ge- samtausgabe von Jean Pauls Werken" habe ich mich auf die Behand- lung der Werke und des Nachlasses beschränkt, da für die Briefe damals noch eine gesonderte Ausgabe vorgesehen und schon begonnen war. Nachdem nunmehr durch Beschluß der Deutschen Akademie der Wissen- schaften die Aufnahme der Briefe als dritte Abteilung der Gesamt- ausgabe beskimmt ist, soll hier zunächst eine allgemeine Übersicht über die zu behandelnde Briefmasse gegeben und sodann dargelegt werden, nach welchen Grundsätzen deren Bearbeitung erfolgt.
Jean Pauls Briefwechsel
A. Handschriften
Der im Jahre 1888 aus dem Besitz der Nachkommen Jean Pauls in den der Preußischen Staatsbibliothek übergegangene gewaltige Nachlaß enthielt auch eine sehr umfangreiche Abteilung "Korrespon-
1) An Friedrich von Oertel, 9. Jan. 1796. Bei Madame de Stael in Coppet wurde dieses Spiel wirklich getrieben unter dem Namen "La petite poste".
ganzes perſönliches Tun und Laſſen ſeinem Schriftſtellerberufe dienſt- bar machte, waren auch Privatbriefe für ihn nur Vorübungen und Konzepte für ſeine offenen Schreiben ans Publikum. So gewiß dem ſo iſt, ſo verkehrt und ungerecht wäre es, ſeinen Briefen deshalb Auf- richtigkeit und Wahrhaftigkeit abzuſprechen. Dieſem merkwürdigen Menſchen war eben Kunſt zur zweiten Natur, Dichten zum Leben, Bewußtheit zum Inſtinkt geworden; es iſt der Schlüſſel zu ſeinem Weſen, zu begreifen, daß dieſe Gegenſätze für ihn keine waren. Über- haupt ſpielte ſich ja ſein Leben in einem ſelbſt für die damalige ſchreib- ſelige Zeit ungewöhnlichen Grade auf dem Papier und beſonders auf dem Briefpapier ab. Hat er doch an Freunde, von denen ihn nur eine Wand oder eine Gaſſenbreite trennte, nicht nur zahlloſe Billette, ſondern nicht ſelten lange Briefe geſchrieben, ja ſeiner Frau zuweilen, ohne abweſend zu ſein, ſchriftlich zum Geburtstag gratuliert. Zu ſeinen Lieblingsideen gehörte eine Geſellſchaft, die, um einen Tiſch ſitzend, ſtatt Geſprächen Briefe wechſelt1). Seine Briefe laſſen denn auch ſein Leben in einer Vollſtändigkeit wiedererſtehen, wie es in unſerer fern- ſprechenden Zeit niemals möglich wäre.
In meinen 1927 in den Abhandlungen der Preußiſchen Akademie der Wiſſenſchaften erſchienenen „Prolegomena zur hiſtoriſch-kritiſchen Ge- ſamtausgabe von Jean Pauls Werken“ habe ich mich auf die Behand- lung der Werke und des Nachlaſſes beſchränkt, da für die Briefe damals noch eine geſonderte Ausgabe vorgeſehen und ſchon begonnen war. Nachdem nunmehr durch Beſchluß der Deutſchen Akademie der Wiſſen- ſchaften die Aufnahme der Briefe als dritte Abteilung der Geſamt- ausgabe beſkimmt iſt, ſoll hier zunächſt eine allgemeine Überſicht über die zu behandelnde Briefmaſſe gegeben und ſodann dargelegt werden, nach welchen Grundſätzen deren Bearbeitung erfolgt.
Jean Pauls Briefwechſel
A. Handſchriften
Der im Jahre 1888 aus dem Beſitz der Nachkommen Jean Pauls in den der Preußiſchen Staatsbibliothek übergegangene gewaltige Nachlaß enthielt auch eine ſehr umfangreiche Abteilung „Korreſpon-
1) An Friedrich von Oertel, 9. Jan. 1796. Bei Madame de Staël in Coppet wurde dieſes Spiel wirklich getrieben unter dem Namen „La petite poste“.
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[VI/0005]
ganzes perſönliches Tun und Laſſen ſeinem Schriftſtellerberufe dienſt-
bar machte, waren auch Privatbriefe für ihn nur Vorübungen und
Konzepte für ſeine offenen Schreiben ans Publikum. So gewiß dem ſo
iſt, ſo verkehrt und ungerecht wäre es, ſeinen Briefen deshalb Auf-
richtigkeit und Wahrhaftigkeit abzuſprechen. Dieſem merkwürdigen
Menſchen war eben Kunſt zur zweiten Natur, Dichten zum Leben,
Bewußtheit zum Inſtinkt geworden; es iſt der Schlüſſel zu ſeinem
Weſen, zu begreifen, daß dieſe Gegenſätze für ihn keine waren. Über-
haupt ſpielte ſich ja ſein Leben in einem ſelbſt für die damalige ſchreib-
ſelige Zeit ungewöhnlichen Grade auf dem Papier und beſonders auf
dem Briefpapier ab. Hat er doch an Freunde, von denen ihn nur eine
Wand oder eine Gaſſenbreite trennte, nicht nur zahlloſe Billette,
ſondern nicht ſelten lange Briefe geſchrieben, ja ſeiner Frau zuweilen,
ohne abweſend zu ſein, ſchriftlich zum Geburtstag gratuliert. Zu ſeinen
Lieblingsideen gehörte eine Geſellſchaft, die, um einen Tiſch ſitzend, ſtatt
Geſprächen Briefe wechſelt 1). Seine Briefe laſſen denn auch ſein Leben
in einer Vollſtändigkeit wiedererſtehen, wie es in unſerer fern-
ſprechenden Zeit niemals möglich wäre.
In meinen 1927 in den Abhandlungen der Preußiſchen Akademie der
Wiſſenſchaften erſchienenen „Prolegomena zur hiſtoriſch-kritiſchen Ge-
ſamtausgabe von Jean Pauls Werken“ habe ich mich auf die Behand-
lung der Werke und des Nachlaſſes beſchränkt, da für die Briefe damals
noch eine geſonderte Ausgabe vorgeſehen und ſchon begonnen war.
Nachdem nunmehr durch Beſchluß der Deutſchen Akademie der Wiſſen-
ſchaften die Aufnahme der Briefe als dritte Abteilung der Geſamt-
ausgabe beſkimmt iſt, ſoll hier zunächſt eine allgemeine Überſicht über
die zu behandelnde Briefmaſſe gegeben und ſodann dargelegt werden,
nach welchen Grundſätzen deren Bearbeitung erfolgt.
Jean Pauls Briefwechſel
A. Handſchriften
Der im Jahre 1888 aus dem Beſitz der Nachkommen Jean Pauls
in den der Preußiſchen Staatsbibliothek übergegangene gewaltige
Nachlaß enthielt auch eine ſehr umfangreiche Abteilung „Korreſpon-
1) An Friedrich von Oertel, 9. Jan. 1796. Bei Madame de Staël in Coppet
wurde dieſes Spiel wirklich getrieben unter dem Namen „La petite poste“.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
Weitere Informationen …
Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. VI. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/5>, abgerufen am 04.07.2024.
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