selben enthüllen wil, da ich leider Ihnen bisher keine andere Seiten,[425] als die, die nur für mein Geschlecht gehören, offenbaren konte.
Liebe, Stille, Resignierende, jezt flieht der Ton, der weniger aus Ihrer Kehle als aus Ihrem Herzen dringt, wie ein zurükwandelnder Frühling vor mir vorüber und ich möchte meine ganze Seele an Ihre,5 und mein von der Freude feuchtes Auge an Ihres legen, das oft dem meinigen aus andern Gründen gleicht. Warum ist der Mensch so, -- und doch wär es schlimmer wenn man fragen müste, warum ist der Mensch nicht so --, daß er vor keiner Abendröthe, vor keiner epischen Gegend, vor keiner zerschmolzenen und zerschmelzenden Musik und vor10 keinem zitternden Abendstern zu stehen vermag, ohne an das zu denken, was er liebt, ohne an eine Seele zu denken, vor der er von seinem Herzen die Brust abreissen möchte, um ihr dasselbe mit allen Schlägen der Liebe freudig zu entblössen. -- Jeder schöne Abend mit Wolkenroth war mir in Bayreuth ein solcher Brief an Sie -- und heute endige ich15 erst den, den ich damals anfieng -- -- am fremden Orte dehnet eine unbezwingliche Sehnsucht nach der Seele, die man liebt, den beglükten Busen aus und man möchte in ein fremdes Auge die Freudenheisse Thräne und an ein fremdes Herz den von der Freude gebornen Seufzer giessen -- -- --20
Liebe, Gute, mehr Geliebte als du weist, wenn du dieses Blat bekömst, lieb [abgebrochen]
446. An Christoph Otto.
Hof. d. 5 Nov. 93 [Dienstag].
Sie haben mich nie beleidigt -- Sie haben mir bisher nichts er-25 wiesen als Gefälligkeiten -- Sie haben mir nur ein einzigesmal Un- recht gethan, (aber Ihrem Herzen noch mehr,) und das ist jezt: daher kan ich Sie unmöglich der Folter Ihres Irthums und Ihres Argwohns überlassen. Ich bin mir und einer Person wie Sie sind, deren Karakter und Talente und Verwandschaft ich so ehre, die Erklärung schuldig, die30 Sie hätten errathen sollen: daß Ihre jezigen Auslegungen durchaus falsch sind -- daß Sie meinem Karakter zu wenig Recht wiederfahren lassen, wenn Sie mir die Genügsamkeit mit einer Person zutrauen, die schon in fremden Verhältnissen steht -- daß Sie auf eine nur durch[426] einen langen Argwohn begreifliche Weise eine der unschuldigsten35
ſelben enthüllen wil, da ich leider Ihnen bisher keine andere Seiten,[425] als die, die nur für mein Geſchlecht gehören, offenbaren konte.
Liebe, Stille, Reſignierende, jezt flieht der Ton, der weniger aus Ihrer Kehle als aus Ihrem Herzen dringt, wie ein zurükwandelnder Frühling vor mir vorüber und ich möchte meine ganze Seele an Ihre,5 und mein von der Freude feuchtes Auge an Ihres legen, das oft dem meinigen aus andern Gründen gleicht. Warum iſt der Menſch ſo, — und doch wär es ſchlimmer wenn man fragen müſte, warum iſt der Menſch nicht ſo —, daß er vor keiner Abendröthe, vor keiner epiſchen Gegend, vor keiner zerſchmolzenen und zerſchmelzenden Muſik und vor10 keinem zitternden Abendſtern zu ſtehen vermag, ohne an das zu denken, was er liebt, ohne an eine Seele zu denken, vor der er von ſeinem Herzen die Bruſt abreiſſen möchte, um ihr daſſelbe mit allen Schlägen der Liebe freudig zu entblöſſen. — Jeder ſchöne Abend mit Wolkenroth war mir in Bayreuth ein ſolcher Brief an Sie — und heute endige ich15 erſt den, den ich damals anfieng — — am fremden Orte dehnet eine unbezwingliche Sehnſucht nach der Seele, die man liebt, den beglükten Buſen aus und man möchte in ein fremdes Auge die Freudenheiſſe Thräne und an ein fremdes Herz den von der Freude gebornen Seufzer gieſſen — — —20
Liebe, Gute, mehr Geliebte als du weiſt, wenn du dieſes Blat bekömſt, lieb [abgebrochen]
446. An Chriſtoph Otto.
Hof. d. 5 Nov. 93 [Dienstag].
Sie haben mich nie beleidigt — Sie haben mir bisher nichts er-25 wieſen als Gefälligkeiten — Sie haben mir nur ein einzigesmal Un- recht gethan, (aber Ihrem Herzen noch mehr,) und das iſt jezt: daher kan ich Sie unmöglich der Folter Ihres Irthums und Ihres Argwohns überlaſſen. Ich bin mir und einer Perſon wie Sie ſind, deren Karakter und Talente und Verwandſchaft ich ſo ehre, die Erklärung ſchuldig, die30 Sie hätten errathen ſollen: daß Ihre jezigen Auslegungen durchaus falſch ſind — daß Sie meinem Karakter zu wenig Recht wiederfahren laſſen, wenn Sie mir die Genügſamkeit mit einer Perſon zutrauen, die ſchon in fremden Verhältniſſen ſteht — daß Sie auf eine nur durch[426] einen langen Argwohn begreifliche Weiſe eine der unſchuldigſten35
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Liebe, Stille, Reſignierende, jezt flieht der Ton, der weniger aus
Ihrer Kehle als aus Ihrem Herzen dringt, wie ein zurükwandelnder
Frühling vor mir vorüber und ich möchte meine ganze Seele an Ihre, 5
und mein von der Freude feuchtes Auge an Ihres legen, das oft dem
meinigen aus andern Gründen gleicht. Warum iſt der Menſch ſo, —
und doch wär es ſchlimmer wenn man fragen müſte, warum iſt der
Menſch nicht ſo —, daß er vor keiner Abendröthe, vor keiner epiſchen
Gegend, vor keiner zerſchmolzenen und zerſchmelzenden Muſik und vor 10
keinem zitternden Abendſtern zu ſtehen vermag, ohne an das zu denken,
was er liebt, ohne an eine Seele zu denken, vor der er von ſeinem
Herzen die Bruſt abreiſſen möchte, um ihr daſſelbe mit allen Schlägen
der Liebe freudig zu entblöſſen. — Jeder ſchöne Abend mit Wolkenroth
war mir in Bayreuth ein ſolcher Brief an Sie — und heute endige ich 15
erſt den, den ich damals anfieng — — am fremden Orte dehnet eine
unbezwingliche Sehnſucht nach der Seele, die man liebt, den beglükten
Buſen aus und man möchte in ein fremdes Auge die Freudenheiſſe
Thräne und an ein fremdes Herz den von der Freude gebornen Seufzer
gieſſen — — — 20
Liebe, Gute, mehr Geliebte als du weiſt, wenn du dieſes Blat
bekömſt, lieb [abgebrochen]
446. An Chriſtoph Otto.
Hof. d. 5 Nov. 93 [Dienstag].
Sie haben mich nie beleidigt — Sie haben mir bisher nichts er- 25
wieſen als Gefälligkeiten — Sie haben mir nur ein einzigesmal Un-
recht gethan, (aber Ihrem Herzen noch mehr,) und das iſt jezt: daher
kan ich Sie unmöglich der Folter Ihres Irthums und Ihres Argwohns
überlaſſen. Ich bin mir und einer Perſon wie Sie ſind, deren Karakter
und Talente und Verwandſchaft ich ſo ehre, die Erklärung ſchuldig, die 30
Sie hätten errathen ſollen: daß Ihre jezigen Auslegungen durchaus
falſch ſind — daß Sie meinem Karakter zu wenig Recht wiederfahren
laſſen, wenn Sie mir die Genügſamkeit mit einer Perſon zutrauen, die
ſchon in fremden Verhältniſſen ſteht — daß Sie auf eine nur durch
einen langen Argwohn begreifliche Weiſe eine der unſchuldigſten 35
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/433>, abgerufen am 25.07.2024.
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