Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956.Unschuld und Wolwollen steht selten in einem Garten auf 2 Füsse Aber ihr schönen Stunden solt einmal an meinen Schreibtisch5 O liebe Renate! ich dachte oft an Sie in jener Nacht -- die Freude -- Meine liebe Renate! wir wollen uns lieben, eh wir uns trennen -- d. 10 Jul. Gestern abends giengen wir alle wieder spazieren -- ein ganzes30 Unſchuld und Wolwollen ſteht ſelten in einem Garten auf 2 Füſſe Aber ihr ſchönen Stunden ſolt einmal an meinen Schreibtiſch5 O liebe Renate! ich dachte oft an Sie in jener Nacht — die Freude — Meine liebe Renate! wir wollen uns lieben, eh wir uns trennen — d. 10 Jul. Geſtern abends giengen wir alle wieder ſpazieren — ein ganzes30 <TEI> <text> <body> <div type="letter" n="1"> <div> <p><pb facs="#f0421" n="393"/> Unſchuld und Wolwollen ſteht ſelten in einem Garten auf 2 Füſſe<lb/> geſtelt) — ich häkelte meinen Arm an ſie ein, obgleich ein anderer<lb/> mänlicher da war, deſſen Hand einmal der Ring an ihre löthet, und<lb/> ich wurde bald vertraut mit ihr und gieng den ganzen Abend mit ihr. …</p><lb/> <p>Aber ihr ſchönen Stunden ſolt einmal an meinen Schreibtiſch<lb n="5"/> treten und ich wil euch mit 〈ſamt〉 der Todtenfarbe der Vergangenheit<lb/> abzeichnen und aufs Papier — begraben, damit ich nicht ohne Denkmal<lb/> bin. …</p><lb/> <p>O liebe Renate! ich dachte oft an Sie in jener Nacht — die Freude<lb/> des Menſchen hienieden iſt nichts als eine vergröſſerte Sehnſucht —<lb n="10"/> ich ſah an jedem Gebüſch die Johanniswürmgen wie Edelſteine<note place="right"><ref target="1922_Bd#_413">[413]</ref></note><lb/> glimmend hängen, über dem Teiche ſtiegen ſie wie Funken auf und ich<lb/> ſtreuete dieſe lebendigen Sterne in das Haar der ſchönen Fusgängerin<lb/> — der Himmel ruhte entfernt über uns und unſern kleinen fliehenden<lb/> Freuden aus und dekte in ſeinen Sternen die gröſſern auf — in mir<lb n="15"/> war ein Streit zwiſchen dem Ohre und dem Auge, zwiſchen der Muſik<lb/> und der Schönheit und ich hätte (ſo ſonderbar es ſcheint) mich in eine<lb/> finſtere Lauben-Ecke werfen mögen, um ungeſtört allen ſchönen<lb/> Phantaſien — Tönen — Schimmerwürmgen — Sternen — und<lb/> Abendlüftgen um mich mein zitterndes Herz zu geben und zu ſagen:<lb n="20"/> zerdrükt es zu Einer Freudenthräne!</p><lb/> <p>— Meine liebe Renate! wir wollen uns lieben, eh wir uns trennen —<lb/> dieſer Abend hat meinen Entſchlus aus Hof zu gehen, unveränderlich<lb/> befeſtigt und beſchleunigt — wenn wir uns an keinem Sonabend mehr<lb/> ſehen, werden wir uns ſehnen, aber vergeblich — wenn dein Herz<lb n="25"/> kein Echo mehr um ſich findet, wird es oft mitten in der Freude ſagen:<lb/> ach der es kante, iſt fortgegangen. Wenn es nicht ſo ſagte: ſo wär’ es<lb/> gar zu unglüklich. — Schreib mir wieder, Freundin! —</p> </div><lb/> <div> <dateline> <hi rendition="#right"> <hi rendition="#aq">d. 10 Jul.</hi> </hi> </dateline><lb/> <p>Geſtern abends giengen wir alle wieder ſpazieren — ein ganzes<lb n="30"/> Bataillon — die ſchöne Chriſtiana und ihre Schweſter war wieder<lb/> dabei und ich lehrte jene die Bayreuther Art zu führen, zwei Stunden<lb/> lang. Wir waren bei ihren Eltern. Die dritte Schweſter iſt eben ſo<lb/> ſchön von der Natur ausgearbeitet. — Heute Nachts um 10 Uhr<lb/> (Mitwoch) fahren wir ab. — Vergeben Sie meiner Eile, die ſo gros<lb n="35"/> iſt wie meine Schreibſeligkeit, die Dinten-Muſchen, das Ausſtreichen<lb/> und die Wörter, die einander über den Köpfen ſtehen. — Ich bitte Sie<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [393/0421]
Unſchuld und Wolwollen ſteht ſelten in einem Garten auf 2 Füſſe
geſtelt) — ich häkelte meinen Arm an ſie ein, obgleich ein anderer
mänlicher da war, deſſen Hand einmal der Ring an ihre löthet, und
ich wurde bald vertraut mit ihr und gieng den ganzen Abend mit ihr. …
Aber ihr ſchönen Stunden ſolt einmal an meinen Schreibtiſch 5
treten und ich wil euch mit 〈ſamt〉 der Todtenfarbe der Vergangenheit
abzeichnen und aufs Papier — begraben, damit ich nicht ohne Denkmal
bin. …
O liebe Renate! ich dachte oft an Sie in jener Nacht — die Freude
des Menſchen hienieden iſt nichts als eine vergröſſerte Sehnſucht — 10
ich ſah an jedem Gebüſch die Johanniswürmgen wie Edelſteine
glimmend hängen, über dem Teiche ſtiegen ſie wie Funken auf und ich
ſtreuete dieſe lebendigen Sterne in das Haar der ſchönen Fusgängerin
— der Himmel ruhte entfernt über uns und unſern kleinen fliehenden
Freuden aus und dekte in ſeinen Sternen die gröſſern auf — in mir 15
war ein Streit zwiſchen dem Ohre und dem Auge, zwiſchen der Muſik
und der Schönheit und ich hätte (ſo ſonderbar es ſcheint) mich in eine
finſtere Lauben-Ecke werfen mögen, um ungeſtört allen ſchönen
Phantaſien — Tönen — Schimmerwürmgen — Sternen — und
Abendlüftgen um mich mein zitterndes Herz zu geben und zu ſagen: 20
zerdrükt es zu Einer Freudenthräne!
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— Meine liebe Renate! wir wollen uns lieben, eh wir uns trennen —
dieſer Abend hat meinen Entſchlus aus Hof zu gehen, unveränderlich
befeſtigt und beſchleunigt — wenn wir uns an keinem Sonabend mehr
ſehen, werden wir uns ſehnen, aber vergeblich — wenn dein Herz 25
kein Echo mehr um ſich findet, wird es oft mitten in der Freude ſagen:
ach der es kante, iſt fortgegangen. Wenn es nicht ſo ſagte: ſo wär’ es
gar zu unglüklich. — Schreib mir wieder, Freundin! —
d. 10 Jul.
Geſtern abends giengen wir alle wieder ſpazieren — ein ganzes 30
Bataillon — die ſchöne Chriſtiana und ihre Schweſter war wieder
dabei und ich lehrte jene die Bayreuther Art zu führen, zwei Stunden
lang. Wir waren bei ihren Eltern. Die dritte Schweſter iſt eben ſo
ſchön von der Natur ausgearbeitet. — Heute Nachts um 10 Uhr
(Mitwoch) fahren wir ab. — Vergeben Sie meiner Eile, die ſo gros 35
iſt wie meine Schreibſeligkeit, die Dinten-Muſchen, das Ausſtreichen
und die Wörter, die einander über den Köpfen ſtehen. — Ich bitte Sie
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(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen). Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
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