thätigen Lebens, das Zeit und Willen dem unnüzen Schminken nimt. Die Alten fühlten so wenig wie Wilde und Kinder die Reize ihrer Komposizion, weil dieses [?] Gefühl erst vom Vergleich und Kontrast scharf wird: die einfache Natur, womit der tyrolische Hiesel die Bewohner und Kenner der geschnörkelten Natur entzükt, kan der5 Hiesel selbst nicht fühlen und wenn die römischen Grossen sich am Spielen nakter Kinder labten, womit sie ihre Zimmer puzten: so hatten die Grossen, nicht die Kinder das Vergnügen und den Geschmak. Die Alten schrieben mit Geschmak ohne ihn zu haben (wie [bei] Haman etc. oft der entgegengesezte Fal ist) -- die Athener*) beklatschten keine Redner mehr als die Antithesenfabrikanten; die Römer liebten Wort- spiele etc. Hätt' einer so geschrieben wie Schakesp[eare]: sie hätten sich alle um ihn gestelt. Ihrem ungebildeten Geschmak fehlten nur die luxuriösen Autoren, die der Luxus erst giebt. Denn es ist unmöglich, daß man vom besten Geschmak zum schlimmen steige; wer einmal einen15 am Einfachen gefunden, behält ihn ewig und wäre bei einem ganzen Volk der Besiz eines Vorzugs von Auserwählten möglich: so könt' es ihn nie verlieren. -- Den Geschmak am Geist der Alten können nicht einzelne Personen -- denn das Gefühl für iene Rundheit der[352] Komposizion mus durch die Uebung an allen Arten von Schönem, deren20 [iedes] Säkul neue zeugt, von Jahrhundert zu Jahrhundert empfind- licher werden -- sondern [nur] ganze Völker [verlieren], um die durch [?] Verdorbenheit der Sitten der stinkende Nebel immer schwärzer wird, hinter dem iene Grazien stehen wie homerische Götter hinter ihren Wolken.25
Die Alten verstehen und goutieren [ist] so verschieden etc. indes Lipsius mit geschmakloser Kürze dem Seneka und Bembo mit Wässerig- keit dem Zizero nachspringen wil. O es gehören andre Herzen und Seelenflügel dazu als am und im Rumpf eines Krebs (der so sehr über die Devalvazion der Alten winselt und greint) stecken, um zu fühlen,30 warum die Alten den Plato den Götlichen nanten, warum Xenophon gros und die Anthologen edel sind.
b) Gleichwol thut die Devalvazion nichts. Im 9ten Jahrhundert hätte sie alles gethan; aber im 18ten, wo alle Völker gradus ad parnas-
*) Plato, Sophokles haben oft die geschmaklosesten Auswüchse; ihre übrige10 Geschmakh[aftigkeit] verdanken sie also nicht ihrem Geschmak sondern ihrem Genie.
thätigen Lebens, das Zeit und Willen dem unnüzen Schminken nimt. Die Alten fühlten ſo wenig wie Wilde und Kinder die Reize ihrer Kompoſizion, weil dieſes [?] Gefühl erſt vom Vergleich und Kontraſt ſcharf wird: die einfache Natur, womit der tyroliſche Hieſel die Bewohner und Kenner der geſchnörkelten Natur entzükt, kan der5 Hieſel ſelbſt nicht fühlen und wenn die römiſchen Groſſen ſich am Spielen nakter Kinder labten, womit ſie ihre Zimmer puzten: ſo hatten die Groſſen, nicht die Kinder das Vergnügen und den Geſchmak. Die Alten ſchrieben mit Geſchmak ohne ihn zu haben (wie [bei] Haman ꝛc. oft der entgegengeſezte Fal iſt) — die Athener*) beklatſchten keine Redner mehr als die Antitheſenfabrikanten; die Römer liebten Wort- ſpiele ꝛc. Hätt’ einer ſo geſchrieben wie Schakeſp[eare]: ſie hätten ſich alle um ihn geſtelt. Ihrem ungebildeten Geſchmak fehlten nur die luxuriöſen Autoren, die der Luxus erſt giebt. Denn es iſt unmöglich, daß man vom beſten Geſchmak zum ſchlimmen ſteige; wer einmal einen15 am Einfachen gefunden, behält ihn ewig und wäre bei einem ganzen Volk der Beſiz eines Vorzugs von Auserwählten möglich: ſo könt’ es ihn nie verlieren. — Den Geſchmak am Geiſt der Alten können nicht einzelne Perſonen — denn das Gefühl für iene Rundheit der[352] Kompoſizion mus durch die Uebung an allen Arten von Schönem, deren20 [iedes] Säkul neue zeugt, von Jahrhundert zu Jahrhundert empfind- licher werden — ſondern [nur] ganze Völker [verlieren], um die durch [?] Verdorbenheit der Sitten der ſtinkende Nebel immer ſchwärzer wird, hinter dem iene Grazien ſtehen wie homeriſche Götter hinter ihren Wolken.25
Die Alten verſtehen und goutieren [iſt] ſo verſchieden ꝛc. indes Lipſius mit geſchmakloſer Kürze dem Seneka und Bembo mit Wäſſerig- keit dem Zizero nachſpringen wil. O es gehören andre Herzen und Seelenflügel dazu als am und im Rumpf eines Krebs (der ſo ſehr über die Devalvazion der Alten winſelt und greint) ſtecken, um zu fühlen,30 warum die Alten den Plato den Götlichen nanten, warum Xenophon gros und die Anthologen edel ſind.
b) Gleichwol thut die Devalvazion nichts. Im 9ten Jahrhundert hätte ſie alles gethan; aber im 18ten, wo alle Völker gradus ad parnas-
*) Plato, Sophokles haben oft die geſchmakloſeſten Auswüchſe; ihre übrige10 Geſchmakh[aftigkeit] verdanken ſie alſo nicht ihrem Geſchmak ſondern ihrem Genie.
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ſcharf wird: die einfache Natur, womit der tyroliſche Hieſel die
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Hieſel ſelbſt nicht fühlen und wenn die römiſchen Groſſen ſich am Spielen
nakter Kinder labten, womit ſie ihre Zimmer puzten: ſo hatten die
Groſſen, nicht die Kinder das Vergnügen und den Geſchmak. Die
Alten ſchrieben mit Geſchmak ohne ihn zu haben (wie [bei] Haman ꝛc.
oft der entgegengeſezte Fal iſt) — die Athener *) beklatſchten keine
Redner mehr als die Antitheſenfabrikanten; die Römer liebten Wort-
ſpiele ꝛc. Hätt’ einer ſo geſchrieben wie Schakeſp[eare]: ſie hätten ſich
alle um ihn geſtelt. Ihrem ungebildeten Geſchmak fehlten nur die
luxuriöſen Autoren, die der Luxus erſt giebt. Denn es iſt unmöglich,
daß man vom beſten Geſchmak zum ſchlimmen ſteige; wer einmal einen 15
am Einfachen gefunden, behält ihn ewig und wäre bei einem ganzen
Volk der Beſiz eines Vorzugs von Auserwählten möglich: ſo könt’
es ihn nie verlieren. — Den Geſchmak am Geiſt der Alten können
nicht einzelne Perſonen — denn das Gefühl für iene Rundheit der
Kompoſizion mus durch die Uebung an allen Arten von Schönem, deren 20
[iedes] Säkul neue zeugt, von Jahrhundert zu Jahrhundert empfind-
licher werden — ſondern [nur] ganze Völker [verlieren], um die durch
[?] Verdorbenheit der Sitten der ſtinkende Nebel immer ſchwärzer
wird, hinter dem iene Grazien ſtehen wie homeriſche Götter hinter
ihren Wolken. 25
[352]Die Alten verſtehen und goutieren [iſt] ſo verſchieden ꝛc. indes
Lipſius mit geſchmakloſer Kürze dem Seneka und Bembo mit Wäſſerig-
keit dem Zizero nachſpringen wil. O es gehören andre Herzen und
Seelenflügel dazu als am und im Rumpf eines Krebs (der ſo ſehr über
die Devalvazion der Alten winſelt und greint) ſtecken, um zu fühlen, 30
warum die Alten den Plato den Götlichen nanten, warum Xenophon
gros und die Anthologen edel ſind.
b) Gleichwol thut die Devalvazion nichts. Im 9ten Jahrhundert
hätte ſie alles gethan; aber im 18ten, wo alle Völker gradus ad parnas-
*) Plato, Sophokles haben oft die geſchmakloſeſten Auswüchſe; ihre übrige 10
Geſchmakh[aftigkeit] verdanken ſie alſo nicht ihrem Geſchmak ſondern ihrem Genie.
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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert.
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Historisch-kritische Ausgabe der Werke und Briefe von Jean Paul. Berlin-Brandenburgische Akademie zu Berlin: Bereitstellung der Texttranskription.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Markus Bernauer, Matthias Boenig: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2016-11-22T14:52:17Z)
Weitere Informationen:
Die digitale Edition der Briefe Jean Pauls im Deutschen Textarchiv basiert auf der von Eduard Berend herausgegebenen III. Abteilung der Historisch-kritischen Ausgabe mit den Briefen Jean Pauls. Die Bände werden im Faksimile und in getreuer Umschrift ohne Korrekturen vollständig zugänglich gemacht. Nicht aufgenommen, da in der hier gewählten Präsentation kaum nutzbar, sind Berends umfangreiche Register über die III. Abteilung in Band III/9, die in das elektronische Gesamtregister über die Briefe von und an Jean Paul eingegangen sind. Das bedeutet: Aufbewahrungsorte von Handschriften sowie veraltete Literaturverweise blieben ebenso bestehen wie die Nummern der von Jean Paul beantworteten Briefe oder der an ihn gerichteten Antworten, Nummern, die sich auf die Regesten in den digitalisierten Bänden beziehen und nicht auf die neue IV. Abteilung mit den Briefen an Jean Paul (s. dort die Konkordanzen).
Eine andere, briefzentrierte digitale Edition der Briefe Jean Pauls ist derzeit als Gemeinschaftsprojekt der Jean-Paul-Edition und der Initiative TELOTA in Vorbereitung. Die Metadaten dieser Ausgabe sowie veraltete Verweise in den Erläuterungen werden dort so weit als möglich aktualisiert. Die Digitalisierung wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert.
Jean Paul: Dritte Abteilung Briefe. In: Jean Pauls Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. 3, Bd. 1. Berlin, 1956, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jeanpaul_briefe01_1956/359>, abgerufen am 04.07.2024.
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